Weitere Fallstricke der agilen Transformation
Der Trend zur „agilen Transformation“ ist in vielen Unternehmen unübersehbar. Angesichts weitreichender und umfassender Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft wird in vielen Führungsetage rege darüber diskutiert. So verlockend flache Hierarchien und schnelle Entscheidungswege auch sein mögen: Bei der Umsetzung der „agilen Transformation“ zu einem echten Erfolgsmodell drohen viele Fallstricke des Scheiterns. Dann ist es gut zu wissen, warauf es wirklich ankommt.
In einem umfassenden Blogbeitrag habe ich die Leser bereits ausführlich in die Thematik eingeführt. Zur Sprache kamen dabei die Themen:
- Entscheiden aus dem Elfenbeinturm
- „Scrumfall“: agil handeln, aber Wasserfall-Denken
- Big-Bang-Ansatz statt iterativer Transformation
- Experten zum Schnäppchenpreis einkaufen
- Schlüsselpositionen falsch besetzen
Im folgenden Artikelbeitrag möchte ich die Thematik weiter vertiefen und fünf ergänzende grundlegende Gesichtspunkte aufgreifen. Sie betreffen die Kunst, nicht nur einzelne Maßnahmen im Zeichen von „Scrum“ und „Kanban“ umzusetzen, sondern eine neue Firmenkultur, ein neues Mindset zu etablieren:
- Zu volle Backlogs und keine Priorisierung
- Die Hierarchie im Kopf blockiert
- Zusätzliche Entscheidungsebenen einführen
- Die Büromöbelpolizei bleibt aktiv
- Keine Änderung im Führungsstil
Zu volle Backlogs und keine Priorisierung
Ein Thema, das wir häufiger beobachten können, ist auch dies: Meist herrscht viel Druck in Form einer großen Anzahl von Themen, die unbedingt vorangetrieben werden müssen. Dazu gehören gesetzliche Vorgaben und neue Normen oder die Wunsch-Agenda des neuen Vorstandsvorsitzenden. Dazu kommen noch viele weitere Themen aus diversen Führungskreisen.
All diese Faktoren werden ins Backlog gestellt, auch wenn es natürlich Backlog-Einträge von sehr unterschiedlicher Größe und Komplexität sind. Das reicht von der „Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie“ über die „Erfüllung des neuen XYZ-Standards“ oder die „IT-Unterstützung für den neuen Standort“ bis hin zu Fehlern aus dem letzten Produkt-Inkrement. Ergänzend hinzu kommen Änderungswünsche nach den Akzeptanztests für das letzte Release. Eine dicke Packung!
In dieser Situation sieht sich jetzt der Product Owner vor die Aufgabe gestellt, das Backlog zu priorisieren. Streng nach dem Scrum Guide würde man davon sprechen „nach Business Value zu sortieren“. Der aufmerksamen Leser wird jetzt fragen: Der Product Owner soll doch im Backlog seine Produktvision abbilden? Doch dazu kommt er nicht mehr, weil das Backlog schon maximal voll ist. Was läuft hier verkehrt?
Ich kenne Backlogs, die weit mehr als 500 Einträge umfassen und durch die kein Mensch mehr durchblickt. Die vom Unternehmen gewählte Lösung ist nun, ein hochrangiges und mit mehreren Führungskräften besetztes Management-Gremium eine Priorisierung auf „höherer“ Ebene durchführen zu lassen. Gegen so ein Vorgehen hatte ich zwar von Anfang an lautstark protestiert, nur ist der Einfluss jedes externen Beraters begrenzt.
Weder Entscheidung noch Priorisierung
Die Folge: Das Gremium brachte weder eine Entscheidung noch eine Priorisierung zustande, weil jede Person die eigene Agenda auf dem Plan hatte und die eigenen Interessen bzw. Ziele verfolgte. Eine übergreifende, gemeinsame Sichtweise konnte so naturgemäß nicht zustande kommen. Dazu kam ergänzend, dass auf der Ebene von Epics und User Stories an fast allen größeren Themen gleichzeitig und parallel gearbeitet werden musste. Zudem standen hinter den meisten der Themen klare Release-Dates und Deadlines, bis zu denen eine Umsetzung erfolgt sein musste. Dies betraf nicht nur die gesetzlichen Vorgaben, sondern auch Themen, die bereits an die Märkte kommuniziert waren.
In einem Workshop wurde mir erst die vorliegende Problematik geschildert und dann wortreich erklärt, dass es auf der höheren Ebene sehr schwierig sei, zu priorisieren. Schließlich sei man ergänzend damit beschäftigt, an allen Themenkomplexen gleichzeitig zu arbeiten. Als sei das allein noch nicht genug, kam auch noch dazu, dass ein Thema, das erst 2025 verfügbar sein müsse, aber unter Beobachtung des Vorstands stehe, bereits heute klar vorankommen müsse.
Wunder-Kaninchen aus dem Zylinder
Mir wurde dann die Frage gestellt, wie man in diesem Fall erfolgreich priorisieren könne. Ich sollte offensichtlich wieder mal das berühmte Wunder-Kaninchen aus dem Hut zaubern. Meine Antwort war ebenso klar wie unerwünscht: So einfach geht es nicht. Prinzipiell müsste den Beteiligten bereits vorher klar gewesen sein, dass bei diesem, an Verwicklungen reichen Vorgehen ein Priorisieren auf übergeordnete Ebene schlichtweg unmöglich ist. Noch dazu, wenn ein Gremium statt einer Einzelperson miteingebunden ist. Ich komme damit zu einem weiteren wichtigen Punkt.
Wer lange genug mit Management-Gremien in Konzernen zu tun hat, der fühlt sich mitunter an eine Situation wie im Zirkus erinnert. Man wird als Clown und Tiger gleichzeitig in die Manege geführt und weiß nie, was einen erwartet. Manchmal wird man ordentlich vorgeführt, manchmal vor den Augen der anderen regelrecht zerlegt und zuweilen bekommt man auch das, was man erreichen wollte. Wenn man sehr gut vorbereitet ist, alle Teilnehmenden vorher persönlich gebrieft hat und das Gremium das tun lässt, was es gerne tut: entscheiden.
Das neue Bild von Führung
Um in dieser Arena bestehen zu können, braucht es neben exzellenter Vorbereitung vor allem eines: Selbstbewusstsein. Dazu hervorragende Präsentationsfähigkeiten, Moderationskompetenz, strategisches Fingerspitzengefühl und eine gewisse Resilizenz, um mit der unvermeidbaren Möglichkeit einer persönlichen Niederlage umgehen zu können.
Ergänzend zum Selbstbewusstsein sind ein gutes Standing und Persönlichkeit wichtig. Dies gilt umso mehr in turbulenten Zeiten des Umbruchs. In der agilen Welt wollen wir ja zurecht von überkommenen Vorstellungen der Führung wegkommen. Das alte tayloristische Bild von Führung – die Arbeit aufteilen auf die Mannschaft und dann durch enge Begleitung Ergebnisse einfordern oder sich vom Fortschritt berichten lassen – darf endlich in den Ruhestand gehen. Es mag in kurzfristigen Krisen noch seine Berechtigung haben, aber für den „normalen“ Führungsalltag, noch dazu in unserer VUCA-Welt, hat es ausgedient.
Der harte Weg zur Selbstorganisation
Trotz der bereits sicht- und spürbaren Veränderungen definieren sich viele Führungskräfte aber nach wie vor über ihre Machtstellung, ihren vermeintlichen Wissensvorsprung und ihre Position in der Hierachie. Genau dieses Fundament gerät aber bei der agilen Transformation und in selbstorganisierten Teams ins Wanken. Ein Team kann nicht selbstorganisiert arbeiten, wenn jede wichtige Entscheidung noch von einer Führungskraft „abgesegnet“ werden muss. Wenn weiter mit Kommandos und Kontrolle gearbeitet wird. Das führt zu allem anderen als Selbstorganisation auf Ebene der Teams!
Im Rahmen der agilen Transformation ist aber genau das eines der zentralen Ziele. Ich sehe beeindruckende Leistungen in den Teams, die auch vieles selbstorganisiert entscheiden. Und doch gibt es weiterhin Themen und Entscheidungen, die von höher gestellten Führungskräften oder Gremien abgesegnet werden müssen.
Das kann nicht funktionieren! Es kann unter der Voraussetzung erfolgreich sein, dass die Entscheidung beim Team bleibt, aber partnerschaftliche Empfehlungen oder gute Fragen miteinfließen können, die eine andere Sicht auf das Problem ergeben. Etwas mehr Coaching statt Kommando und Kontrolle wären somit angesagt.
So kommen wir zum Prinzip der „servant leadership“, die bei der agilen Transformation gefordert wird. Auf diese Weise ist auch mehr Kapazität verfügbar, um die Hindernisse (Impediments) auszuräumen, die die Arbeit des selbstorganisierten Teams stören. Und um den Wandel voranzutreiben, der sich aus dem Übergang ins agile Arbeiten ergibt.
Abschied von der Hierarchie im eigenen Kopf
Nun kann man lange fordern, dass andere Menschen beziehungsweise die Führungskräfte sich ändern sollen, weil es wenig bringen wird. Jeder muss bekanntlich bei sich selbst anfangen. Das war auch mein Ansatzpunkt in dem Workshop. Ich sagte meinen Teilnehmern, es mache keinen Sinn, sich ständig gegenüber den Gremien für die Arbeit zu rechtfertigen. Den Kopf einzuziehen dafür, dass sie unendlich viele Lösungen entwickelt und doch wieder verworfen hatten.
Zugeben, dass sie aktuell noch keine passende Lösung für das Problem haben, sich jedoch über neue Impulse freuen würden. Sprich: sich endlich von der Hierarchie im eigenen Kopf zu verabschieden, dem Management selbstbewusst auf Augenhöhe gegenüberzutreten und den Führungskräften zu zeigen, dass man in der Lage sei, selbstorganisiert und -verantwortlich Entscheidungen zu treffen. Ich erntete Erstaunen und im Anschluss Widerstand, weil sich „das nie ändern wird“.
Mehr Mut und Selbstbewusstsein zeigen
Meine berechtigte Frage: Woher soll der Wandel in der Führungskultur kommen, wenn die Geführten nicht mehr Selbstbewusstsein und Selbstorganisation zeigen? Es ist paradox: Arbeite ich als Coach mit Führungskräften, jammern diese häufig darüber, dass die Geführten nicht genug Verantwortung übernehmen und man immer alles vorgeben müsse. Arbeite ich mit den geführten, beschweren sich diese über zu wenig Freiraum durch die Führungskraft, so dass man nicht entscheiden könne. Ein echter Teufelskreis in Sachen Führungsverantwortung. Veränderungen in so starren und festgefahrenen Systemen passieren nicht von heute auf morgen, sondern brauchen etwas Geduld. Und viele neue Impulse.
Immerhin zog ein Teilnehmer aus dem Workshop am Ende das Fazit, dass man wohl wirklich künftig anders auftreten müsse in den Gremien, weil sich sonst nie etwas ändern wird. Ein Pflänzchen war somit gesät, das erste zarte Triebe zeigte.
Herkulesaufgabe in komplexer IT-Landschaft
Der Fall wie der beschriebene macht deutlich, dass der Umgang mit und die Neuorganisation von Hierarchien gerade in größeren Unternehmen ein anspruchsvolles Unterfangen ist. Wenn wir mehrere Teams haben, die alle parallel an einem Produkt arbeiten, brauchen wir einen Ansatz zur Skalierung wie SAFe oder LeSS. Dabei kommt immer auch die Frage auf, wie man eigentlich Produkte definiert. Und wie man damit auch eine Grenze zwischen Produkten zieht. Doch wie machen wir das in einer hochgradig verzahnten und komplexen IT-Landschaft? Die Produkte laufen oft entlang komplexer Unternehmens-Prozesse und tauschen miteinander umfangreiche Daten aus.
Das Skalierungs-Framework LeSS rät etwa, Produkte so „breit“ wie möglich anzulegen, aber dann wiederum aus praktischen Erwägungen – wie etwa der Anzahl der Teams im Produkt – dieses wieder so zu verkleinern, bis man eine sinnvolle Größe hat, die eine gute Team-Abstimmung ermöglicht. Es gleicht einer Herkulesaufgabe, eine bestehende, komplexe und ineinander verzahnte IT-Landschaft in Produkte aufzugliedern. Noch dazu, wenn die IT-Organisation nicht komplett mit dem Business integriert ist.
Im Resultat der Bemühungen spiegelt sich sehr stark die Aufbauhierarchie des Unternehmens wider. Das heißt, es gibt eine Gliederungsebene jeweils über und unter dem Produkt. Die Ebene über den Produkten versucht, Produkte mit einer logischen Klammer zu umgreifen und sie somit eher auf der Prozessebene zu integrieren. Die Ebene darunter ist einfach der Komplexität hinsichtlich der Anzahl von Teams, Mitarbeitern und IT-Systemen geschuldet. Somit hat man allerdings keine Hierarchien abgeschafft – ein Grundgedanke von Agilität! -, sondern eine zweite Hierarchie im Unternehmen eingeführt.
Backlogs passend sortieren
Die Problematik, die dadurch entsteht, lässt sich am besten anhand der Sortierung von Backlogs darstellen. Backlogs sollen ja nach „Business Value“ sortiert sein. Das heißt, die Einträge mit dem größten Nutzen stehen oben, und zwar in einer Verfeinerung, so dass Teams sich diese für den nächsten Sprint ziehen können. Nun sind aber in dieser Produkthierarchie die Backlogs auch verzahnt, denn es macht keinen Sinn, dass übergeordnete Strategie-Themen anders sortiert werden als zum Beispiel kleinere Features als User Stories.
Doch welchem großen strategischen Eintrag ordnen wir unser kleines Feature zu? Und wer sortiert wie auf welcher Ebene? Richtig, es kann kein einheitliches Verfahren geben, diese unterschiedlich granularen Backlogs zu sortieren und dabei gleichzeitig zu synchronisieren. Derzeit gibt es auch nur die Lösung, auf der übergeordneten Ebene alle relevanten Themen zu „sammeln“. Auf der untersten Ebene unterhalb der Produkte wissen die Teams ohnehin, wie sie die Entwicklung vorantreiben müssen.
Mein Ansatz wäre gewesen, mit größeren, also „breiteren“ Produkten Erfahrung zu sammeln und daraus zu lernen. Ich gebe zu, ich habe keine Ahnung, ob das eine Lösung gebracht und wie diese ausgesehen hätte. Aber dieses Vorgehen hätte mit Einschränkungen mehr den agilen Prinzipien entsprochen.
Die Büromöbelpolizei bleibt aktiv
Hatten Sie schon mal das Vergnügen, der Büromöbelpolizei zu begegnen? Richtig, das sind die Leute, die festlegen, wieviel Platz ihnen zusteht, ob sie genug Karriere für eine Pflanze gemacht haben oder die natürlich auch dafür sorgen, dass Sie an einem ergonomischen Arbeitsplatz arbeiten können.
Die agile Welt beißt sich oft mit der Kontrollfunktion der Büromöbelpolizei. Wenn ich agile Teams beobachte, dann geht es oft richtig rund. Tische und Stühle werden hin- und hergeschoben, Teams ziehen plötzlich in eine andere Ecke des Büros, pflastern die Wände voll mit ihren Backlogs in Form von Haftnotizen und Klebebändern. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das nicht allen im Unternehmen gefällt.
Ordnung versus kreative Kommunikation
Manche Menschen lieben es einfach, ihren Arbeitsplatz stets am gleichen Ort vorzufinden. Und mal ehrlich, das Zettelchaos an der Wand ist nicht unbedingt so schön wie eine Topfpflanze oder ein Kunstdruck. Aber der Ort, wo ein Team arbeitet, soll es auch bei der Arbeit unterstützen, oder? Wo ein crossfunktionales Scrum-Team miteinander arbeitet, braucht es viel Kommunikation, ein transparentes Backlog, an und mit dem auch permanent gearbeitet und diskutiert wird. Da brummt es mitunter wie im Bienenstock.
Nun stellen Sie sich vor, wie die Büromöbelpolizei in dieser Situation Ordnung schaffen und auf einheitliche Standards achten soll! Ich kenne Unternehmen, die mit der Umstellung auf die agile Arbeitsweise auch gleich die Büromöbelpolizei in den Ruhestand geschickt haben. Und andere, bei denen sie weiter aktiv ist. Vielleicht entdecken Sie an dieser Stelle beim Lesen auch gerade den persönlichen Monk in sich.
Der Führungsstil bleibt command & control
Speziell das Thema Führung ist eine der weit umfassendsten Herausforderungen in der agilen Transformation, weil hierbei so viele Facetten und Wechselwirkungen wirksam sind. Agil zu sein braucht eine andere Art der Führung. Die Grundidee von Führung aus der Zeit des Taylorismus ist, dass der Führende mehr Wissen und Erfahrung hat und deshalb per Kommando die Arbeit vorgibt bzw. aufteilt und vom Team die Ergebnisse einfordert und auf Richtigkeit kontrolliert.
Die Führungskräfte selbst werden wiederum von oben geführt und überwacht, müssen also ihrerseits Fortschritt oder Zielerreichung nachweisen. Daher gibt es in jedem Unternehmen eine Reihe von Kennzahlen (KPI = Key Performance Indicators), mit denen die Zielerreichung gemessen wird. Sollte es noch einen Prozess zur Zielvereinbarung im Unternehmen geben, ist die Erreichung von Zielen für Führungskräfte fast immer auch mit einer Komponente ihres Gehalts (oder Bonus) gekoppelt. Aus unserer Sicht ist dies eine fragwürdige Form von extrinsicher Motivation.
Revolution der Führungskultur
Vor diesem Hintergrund frage ich mich seit Jahren, warum dieses Modell für hervorragend ausgebildete Wissensarbeiter überhaupt noch funktionieren kann und wieviel Gehirnwäsche wir die letzten Jahrzehnte durchlaufen haben, um nicht die vielen Schwachpunkte dieses Systems zu erkennen.
Das Ergebnis zeigt sich in Umfragen und Studien zur Motivation oder dem Grad an innerer Kündigung. Mitarbeiter machen Dienst nach Vorschrift und übernehmen keine Verantwortung für sich und ihre Arbeit. Schließlich will der Chef nur seine Ziele erreichen, um den Bonus zu kassieren. Alle sitzen mit im Boot und das Spiel läuft so, weil wir seit Jahrzehnten nichts anderes kennengelernt haben.
Doch aktuell läuft gerade eine Revolution. Agile Teams organisieren sich selbst. Das führt in manchen Unternehmen dazu, dass Teams über Urlaub und sogar Recruiting vollkommen selbstständig entscheiden! Wozu braucht es da noch eine Führungskraft? Die Arbeit aufteilen? Geht nicht, weil das Team sich selbst die Themen „zieht“, die es im nächsten Sprint umsetzen will. Den Fortschritt kontrollieren? Macht das Team selbst, tagtäglich. Und am Ende des Sprints sogar noch mit Feedback von den Stakeholdern im Sprint Review und der Retrospektive. Kennzahlen zu Fortschritt, Velocity und ähnlichem messen? Das macht entweder der Scrum Master im Burndown Chart oder das Team selbst.
Im Stresstest des Wertewandels
Man sieht: Für Führungskräfte wird es eng und sie müssen ihre Rolle in der agilen Welt ganz neu erfinden. Diese ist aber weder ausreichend definiert noch geklärt. Für viele Führungskräfte bedeutet dies einen großen persönlichen Wandel, der viel Reflexion und Arbeit an der eigenen Persönlichkeit erfordert. Nur so lässt sich ein neues Selbstverständnis von Führung entwickeln. Als erfahrener Business Coach weiß ich, dass viele Führungskräfte sehr wohl ihre Rolle reflektieren, manche aber darin sehr bis absolut unerfahren sind.
Ich habe die letzten Jahre einige Führungskräfte im Rahmen der agilen Transformation begleitet. Manche waren da eher mutig und haben ihrem Team verkündet, dass sie jetzt gerne selbstorganisiert arbeiten können, man aber weiter für Probleme und Unterstützung da sei. Ich war, ehrlich gesagt, erstaunt über den Mut und fand es ein echt starkes Signal, nachdem davor immer Klagen über zuviel „command & control“ durch die Führungskräfte zu hören waren.
Das Ganze war für alle Beteiligten eine große Herausforderung. Die auch ein behutsames Nachjustieren erforderlich machte. Das Team war positiv überrascht und fing an, sich selbst zu organisieren. Es gab plötzlich Konflikte, die bislang die Führungskraft moderiert oder auch entschieden hatte. Prompt kamen Vorwürfe, ob der Vorgesetzte jetzt nur noch fürs Kaffeetrinken bezahlt würde. In Besprechungen und Workshops konnten beide Parteien schließlich gemeinsam ein neues und passendes Führungsverständnis entwickeln.
Treiber der agilen Transformation
Inwiefern unterscheidet sich die Rolle der Führungskräfte im agilen Bereich? Die wichtigste Aufgabe ist, an einer Kultur zu arbeiten, die Agilität insgesamt fördert. Dazu kann man sich fragen, inwiefern sich im eigenen täglichen Handeln etwa die Säulen von Scrum (Transparenz, Inspect & Adapt, iteratives Vorgehen) oder die Scrum-Werte (Fokus, Commitment, Offenheit, Respekt, Mut) wiederfinden. Führungskräfte sind es durchaus gewohnt, sich über Werte Gedanken zu machen. Allerdings haben sie schon viele Werte-Diskussionen er- und überlebt. Im Einzelcoaching lässt sich erfahrungsgemäß aber gut daran arbeiten.
Die nächste Frage, die sich stellt, ist, wie es mit den Werten denn im Team aussieht. Das lässt sich gezielt in einem Workshop mit dem Team besprechen. Eine gewünschte Kultur kann man nie direkt herstellen. Letztlich kann man nur ein Rahmen schaffen, in dem sich die entsprechende Kultur entwickeln kann. Als Führungskraft kann ich passende Verhaltensweisen fördern und den nicht mehr gewünschten entgegentreten und klare Grenzen setzen. Dazu gehört idealerweise das eigene Vorbild.
Vision für das eigene Umfeld
Die nächste Möglichkeit, die nicht erst mit der Agilität kommt, wäre, an Strategie, Vision und Zielen für das eigene Umfeld zu arbeiten. Gerne auch zusammen mit dem Team. Wesentliche Impulse und Ideen müssen aber ganz klar von der Führungskraft kommen. Wo soll mittel- und langfristig die Reise hingehen? Diese Themen sollten auch transparent sein – ein agiler Kernwert! -, das heißt, nicht versteckt auf einem Laufwerk mit eingeschränktem Zugriff.
Führungskräfte müssen Treiber der agilen Organisation sein, sie dürfen sich mit Methoden, Prozessen, aber auch den Änderungen in der (Aufbau-) Organisation beschäftigen. Alles, was uns zu einer besseren Arbeitsweise in der agilen Welt führt. Sie dürfen Zielkonflikte klären, Hindernisse aller Art zusammen mit dem Scrum Master beseitigen oder in Führungskreise einbringen. Sie können Krisen und Konflikte klären und für übergeordnete Entscheidungen sorgen. Vieles davon ist nicht neu, aber es bedeutet mehr als nur die Arbeit zu delegieren und Kennzahlen zu überwachen.
Jenseits von command & control
Schließlich bleiben auch heutige Themen von Führungskräften wie Personalentwicklung oder Mentoring selbstverständlich weiter auf ihrer Agenda. Das kann durchaus auch dahin gehen, die persönliche Entwicklung und Reife der Teammitglieder zu fördern, weil es der Selbstorganisation dient. Nur wer sich selbst gut kennt, weiß auch, wie er seine Stärken ins Team einbringen kann.
Was uns zum letzten Punkt bringt: Führungskräfte dürfen und sollen in der agilen Transformation an der eigenen Persönlichkeitsentwicklung arbeiten. Jenseits von command & control liegt ein Land, in dem man sich selbst entdecken und besser kennenlernen kann.
Ich erlebe als professioneller Business Coach sehr viel Coaching-Bedarf in Organisationen. Klar, wenn sich das Führungsverständnis grundlegend ändert, kommen schon auch persönliche Krisen hoch. Wer bin ich denn jetzt noch, wenn mir nicht mehr 20 Menschen „unterstellt“ sind? Deren Arbeitsfortschritt ich nicht mehr überwachen soll? Change voranbringen? Wie soll das gehen? Das sind alles keine einfachen Fragen. Deren Beantwortung braucht in der Regel Zeit – und manchmal auch einen guten Sparringspartner.
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