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„Und Nietzsche weinte“

Es ist schon ein reizvolles Unterfangen, verschiedene Geistesgrößen der Vergangenheit, die sich im realen Leben nicht oder zumindest nicht so wie geschildert begegnet sind, in einem Roman aufeinander treffen zu lassen. Irvin D. Yalom, Buchautor, ehemaliger Dozent für Psychiatrie in Stanford und einer der einflussreichsten Psychoanalytiker der USA, macht aus dieser Begegnung ein lehrreiches Vexierspiel über die Anfänge der Psychoanalyse. Im Wien der Jugendstilzeit von 1882 lässt er den großen Philosophen Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, dessen Mentor und Förderer, den Arzt Josef Breuer, und die schillernde Künstlerpersönlichkeit Lou Andreas-Salomé zusammentreffen.

Geistreiche Dialoge

Der Roman „Und Nietzsche weinte“ ist für mich ein echter literarischer Leckerbissen mit geistreichen Dialogen, ausgefeilten Charakterstudien und philosophisch-psychoanalytischen Sprachduellen. Er macht das Abenteuer der Selbstentdeckung am Vorabend der Psychologie zu einem atmosphärisch dichten Lesevergnügen. Ergänzend kommt natürlich noch hinzu, dass bei den geschilderten Spaziergängen durch das historische Wien – bekanntlich für mich seit längerem die Lieblingsstadt – immer ein wenig Herzblut mitschwingt.

Die einleitende Rahmenhandlung ist schnell abgesteckt: Lou Andreas-Salomé, die mit Nietzsche und dem Philosophen Paul Rée eine unterschiedlich verstandene Dreiecksbeziehung pflegt, hat von einer neuen Behandlungsmethode des angesehenen  Wiener Arztes Josef Breuer gehört. Diese verspricht die Heilung von  „Seelenleiden“. Unter dem Vorwand der Therapierung körperlicher Gebrechen versucht sie den Arzt dafür zu gewinnen, die seelischen Leiden Nietzsches zu behandeln. Fasziniert von der Person Salomés, willigt Breuer nach anfänglichem Zögern ein.

Akuter Migräneanfall in der Nacht

Nietzsche wiederum ist wegen regelmäßig lähmender Kopfschmerzen zu einem rastlos Reisenden geworden. Auf der Suche nach passenden klimatischen und gesundheitlichen Bedingungen für ein normales Leben und Arbeiten konnten ihm bislang auch die 24 Ärzte, die er schon konsultiert hat, nicht helfen,  sein Leiden zu lindern. Angesichts der langen Referenzliste von Kollegen zweifelt auch Breuer anfangs daran, dem eigenbrötlerischen Patienten helfen zu können. Versuche, ein Behandlungskonzept zu erstellen, scheitern. Als Nietzsche die Hoffnung schon aufgegeben hat, bringt ein akuter Migräneanfall in der Nacht vor der Abreise die Wende. Breuer, der herbeigerufen wurde, gelingt es mit einem Trick, Nietzsche in eine Wiener Klinik einweisen zu lassen.

Der Arzt lässt seinen Patienten glauben, er selbst, Breuer brauche Hilfe und Nietzsche könne ihm beim Weg aus der Sinnkrise beistehen. Während Breuer glaubt, dass sich ihm Nietzsche im Lauf der offenen philosophischen Gespräche offenbare über dessen Dreiecks-Liäson, gerät der Arzt selbst Schritt für Schritt in die Rolle des Behandelten. Aufgrund des unerbittlichen Wahrheitssinn und der Freiheitsgedanken von Nietzsche wird sich Breuer zunehmend des tatsächlichen Ausmaßes seiner Unzufriedenheit mit dem Leben bewusst.

Eheprobleme und sexuelle Obsession

Breuer gesteht Nietzsche schließlich seien Eheprobleme und die Obsession für seine ehemalige Patientin Bertha Pappenheim, die er durch das Pseudonym Anna O. schützt. Im weiteren Verlauf gewinnt die Handlung zunehmend  an Dynamik : Breuer, ermuntert durch Nietzsche, bricht aus seinem bürgerlichen Leben aus. Durch die Konfrontation mit den Dämonen und Untiefen seiner Vergangenheit gelangt er auf eine neue Bewusstseinsstufe.

Im Ringen zwischen Traum und Wirklichkeit entfaltet sich für ihn ein neuer Weg für die private und berufliche Zukunft. Nietzsche seinerseits, der sich am Ende der Niederschrift seines Werks „Also sprach Zarathustra“ widmet, erkennt durch die Begegnung in seiner selbstgewählten Isolation den Wert zwischenmenschlicher Zuwendung. Diese heilt auch seine emotionale Blockade.

Historisches Colorit von Wien

Es bereitet echtes Lesevergnügen, den beiden Größen der Philosophie und der heraufziehenden Psychologie bei ihren Selbstoffenbarungen und -erkenntnissen zu lauschen. Vor dem historischen Colorit Wiens zerbrechen illusorische Selbstbilder und innere Wahrheiten kommen ans Licht. Könnte alles tatsächlich so gewesen sein. Yalom beschreibt nicht einfach nur Szenen, er macht die Begegnung zum spannenden Kammerspiel voller Wendungen. Der Leser gewinnt intime Einblicke in  Leben und Denken der beiden Protagonisten, die ein profundes kulturelles Hintergrundwissen des Autors erkennen lassen.

Virtuosität lässt der literarische Kniff von Yalom erkennen, dass er nicht nur Gespräche zwischen Nietzsche und Breuer in Szene setzt. Eine besondere Wendung bekommt das Ganze damit, dass er Breuer das Gesagte nochmal mit Sigmund Freud diskutieren lässt. Der Vater der Psychoanalyse war während seines Medizinstudiums in Wien mit Breuer bekanntgeworden. Auf der Grundlage der Behandlungen Breuers von Bertha Pappenheim (Anna O.) erarbeiteten beide die „Sprechtherapie“ als Vorstufe der Psychoanalyse.  Beide veröffentlichten 1895 die gemeinsam erarbeiteten „Studien über Hysterie“.

Muse von Nietzsche wurde Analytikerin

Soweit die historischen Fakten. Rund wird dieses fiktive literarische Figurenquartett auch durch Lou Andreas-Salomé. Die Muse von Friedrich Nietzsche und spätere Geliebte von Rainer Maria Rilke traf 1911 mit 50 Jahren erstmals mit Freud beim Kongress der internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Weimar zusammen. Und war fasziniert von dessen Lehre. Sie hörte Vorlesungen, wurde seine Schülerin und ging schließlich 1923 als Lehranalytikerin im Auftrag Freunds nach Königsberg.

Irvin D. Yalom lässt in seinem Roman „Und Nietzsche weinte“ große Belesenheit, akribische Recherche und ein umfassendes Verständnis der jeweiligen Theorien erkennen. Trotz der großen thematischen Tiefe und der vielen Theorien und Hintergründe bleibt das Buch gut lesbar. Es wirkt nicht überladen oder zu theoretisierend. Dazu trägt nicht zuletzt auch die der Zeit und dem Ort angepasste Sprache mit Ausflügen ins Wienerische bei. Den Hut des Respekts ziehen darf man dabei auch für die Übersetzerin Uda Strätling. Sie hat das 1996 erstmals erschienene Werk so übersetzt, dass das Lesen Vergnügen macht.

Film: „Und Nietzsche weinte“

Weniger kann man das von dem 2007 veröffentlichten US-Independant-Film gleichen Namens des Regisseurs Pinchas Perry behaupten. Hier wirken die Figuren stark überzeichnet, den Dialogen fehlt die Tiefe und die eingestreuten Traumszenen wirken zu oberflächlich.

Irvin D. Yalom: Und Nietzsche weinte, übers. von Uda Strätling, 448 Seiten, Verlag btb (4. Auflage 2008), ISBN: 978-3442737284