Heraus aus alten Gewohnheiten!
Es ist immer wieder erstaunlich, wie unbewusste Prägungen unser Verhalten beeinflussen. Gerade als Business-Coach ist man gefordert, wenn es in der Arbeit mit Klienten zuweilen klemmt, weil verdrängte Familienthemen angeschaut werden wollen. Bereichernd waren für mich diesbezüglich Gespräche mit meiner Netzwerk-Partnerin Ingrid Meyer-Legrand aus Berlin. Mit ihrem Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ hat sie vielen Lesern aus der Seele gesprochen. In einem eigenen Blogbeitrag habe ich mich bereits ausführlich mit ihren faszinierenden Erkenntnissen auseinandergesetzt. Gerade wenn es um eigene Leistungsansprüche geht, um Beziehungsfragen, die Fähigkeit zur Abgrenzung oder das Gefühl, immer irgendwie „auf der Flucht“ zu sein.
Regelmäßig bietet Ingrid auch einen Live-Call für Kriegsenkel:innen an, in dem aktuelle Fragen rund deren Lebensthemen im geschützten Rahmen beleuchtet werden. Zuletzt ging es passenderweise um das Thema Weihnachten. Eine Zeit, in der speziell Familienthemen eine besondere Dynamik entfalten können. Meine bzw. unsere Erkenntnisse aus den Gesprächen mit Ingrid möchte ich auch unseren Bloglesern nicht vorenthalten und habe deshalb ergänzend ein Interview mit ihr geführt.
Was hat den Anlass gegeben für dein Angebot eines Live-Calls?
Ingrid Meyer-Legrand: In meinen Coachings hat sich gezeigt, dass immer wieder bestimmte Fragestellungen auftauchen, die auf einer tieferliegenden Ebene mit dem Thema Kriegsenkel:innen zu tun haben. Dafür habe ich ein spezielles Fünf-Schritte-Programm entwickelt. Häufig reichen aber die fünf Sitzungen nicht aus, deshalb bietet der 14-tägige, kostenfrei angebotene Live-Call eine gute Möglichkeit, die Fragen zu vertiefen und in einer größeren Gemeinschaft zu beleuchten. Dank der elektronischen Medien nehmen daran inzwischen bis zu 80 Interessenten aus allen möglichen Regionen teil. Das zeigt für mich, wie groß das Interesse ist.
Gefühle der Einsamkeit an Weihnachten
Was gab den Anlass für einen Live-Call zum Thema Weihnachten?
ML: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum diese Zeit für nicht wenige Menschen kritisch ist. Für Kriegsenkel gilt das vielleicht in besonderer Weise. Speziell, weil es auch um den Umgang mit Einsamkeit geht. Kriegsenkel:innen sind ja nicht unbedingt Weltmeister darin, Bindungen einzugehen. Auf andere wirken sie oft anstrengend, unter anderem deshalb, weil sie in ihrer Kindheit Umgang mit traumatisierten Eltern hatten. Diese waren von ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Krieg oder von Flucht und Vertreibung geprägt. Für die traumatisierten Eltern hatten sie bereits als Kinder zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen. In diesen Beziehungen kamen ihre eigene Bedürfnisse nicht vor.
Was genau wurde dabei als belastend empfunden?
ML: Kriegsenkel haben gespürt, dass ihre Eltern in Not und bedürftig sind. Das heißt, sie haben einen Umgang erlebt, wo sie nur wahrgenommen wurden, wenn sie für andere da waren und etwas geleistet haben. Deshalb ist es für sie bis heute schwierig, Bindungen einzugehen, weil sie meinen, auch dort etwas leisten zu müssen. Deshalb gehen sie oftmals lieber keine Beziehung ein. Das macht oft den Hintergrund ihrer Einsamkeit aus.
Sehnsucht nach tiefen Beziehungen
Wie könnte ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma aussehen?
ML: Es hilft tatsächlich, die eigene Biographie anzuschauen und sich zu fragen, was habe ich in der Kindheit erlebt. Da werden Muster geprägt, wie man Beziehungen gestaltet. Auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen gibt es aber die Sehnsucht nach tiefen und engen Beziehungen. In dieser Situation tut es gut, einen Schritt zurückzugehen und sich einzugestehen, dass man so etwas gerade gar nicht leisten kann.
Daher gilt, dass man genauer auslotet, was man „kann“. Wie nah kann man jemand an sich herankommen lassen oder wie weit muss jemand entfernt sein, um eine Beziehung zu gestalten, in der man auch genügend Raum für sich hat? Auf diese Weise kann die Liebe erhalten bleiben. Erfahrungen aus vielen Gesprächen zeigen, dass die Art Zweierbeziehung, wie wir sie von unseren Eltern kennengelernt haben, nicht unbedingt „artgerecht“ ist. Wir brauchen für eine gute Beziehung ähnlich wie für die gute Erziehung von Kindern ein ganzes Dorf. Und wir versuchen, sowohl das „Projekt Beziehung“ wie auch das „Projekt Erziehung“ mit zwei Leuten zu gestalten. Das ist oft eine sehr große Überforderung.
Aufbruch in ein neues Leben
Gibt es noch andere Faktoren, die bei Kriegsenkeln bestimmend sind für dieses Gefühl der Einsamkeit an Weihnachten?
ML: Die Erfahrungen aus der Kindheit sind dabei in der Tat nur ein Teil. Wir müssen uns auch die Jugend bzw. das junge Erwachsenenalter der Kriegsenkel:innen anschauen. Oft sind sie in dieser biographischen Phase – als die loyalen Kinder ihrer Eltern – mit deren Auftrag in der Tasche aufgebrochen: „Mach‘ etwas aus deinem Leben – wir konnten es nicht“. Diesen Auftrag haben sie sehr ernst genommen, haben studiert und oftmals auch ihr soziales Milieu verlassen.
In dieser Zeit, ab Ende der 60er Jahre, hat die Gesellschaft dafür auch die entsprechenden Ressourcen, etwa in Form von BAFÖG, bereitgestellt. Viele der Kriegsenkel:innen sind zwar aufgebrochen, haben eine akademische Laufbahn angestrebt oder sind ins Ausland gegangen. Doch ob sie da angekommen sind, wo sie hinwollten, das ist die Frage. Viele haben bemerkenswerte Karrieren gemacht. Andere sind nicht dort gelandet, sondern an gläserne Decken gestoßen.
Das Gefühl, nicht ankommen zu können
Oder sie haben gemerkt, dass das nichts für sie ist und sind weiter auf der Suche nach dem richtigen Platz für sie. Bestimmend ist das Gefühl, nicht ankommen zu können. Das wirkt sich auch auf das Berufs- und Privatleben aus. Bestimmend ist das Gefühl der Suche. Viele haben die sichere „Normalbiografie“ verlassen. Die Frage ist nun: Wie können sich Kriegsenkel vor diesem Hintergrund vernetzen, wenn viele ihrer Altersgenoss:innen in konventionellen Lebensmodellen geblieben sind?
Wonach oder wohin richten sie ihre Suche aus?
ML: Bezogen auf unser Thema Weihnachten stelle ich fest, dass sich viele Kriegsenkel:innen in ihrer Einsamkeit dann wieder an ihrer Herkunftsfamilie wenden. Auch wenn sie schon 50 oder 60 Jahre alt sind und dort schon lange nicht mehr leben, fragen sie sich: Soll ich an diesem Weihnachten nach Hause fahren, auch wenn sie da schon längst nicht mehr leben. Und das, obwohl sie dort oftmals nicht wohlgelitten sind und es zu einer Entfremdung von der Herkunftsfamilie gekommen ist. Trotzdem scheint diese immer noch der Ort zu sein, wo sie vermeintlich eine ganz selbstverständliche Verbindung haben.
Ernüchterung nach der Selbstverwirklichung
Aber die Situation „zu Hause“ hat sich doch seit der Kindheit grundlegend geändert?
MG: Zweifellos. Es erweist sich auch schnell als Trugschluss. Viele klagen darüber, dass sie keinen Anschluss mehr an die Familie finden und machen sich persönlich dafür verantwortlich. Sie seien eben zu kritisch, zu eloquent oder zu elegant für das Arbeitermilieu, aus dem sie kommen, lauten die Argumente. Oder sie haben inzwischen ganz andere Werte.
Vonseiten der Familie kommt oft der Vorwurf: Was willst du denn, du bist doch weggegangen. Das ist genau die Krux: Diejenigen, die auf einen neuen Weg und ein eigenständiges Leben aufgebrochen sind, haben es auch in dem Glauben gemacht, etwas für die traumatisierten Eltern zu tun. Dass sie dafür keine Anerkennung finden oder ihnen jetzt sogar Feindseligkeit entgegenschlägt, hat für viele einen bitteren Beigeschmack.
Hadern mit eigenen Entscheidungen
Kommen deine Klienten aus bestimmten Milieus, Schichten, Alters- oder Berufsgruppen? Gibt es bestimmte, verbindende Merkmale?
ML: Nein, das lässt sich nicht so spezifisch zuschreiben. Generell sind Kriegsenkel einerseits beruflich in der Regel sehr erfolgreich und sind mit neuen Werten angetreten. Andererseits sind auch viele auf der Strecke geblieben durch die starken gesellschaftlichen Veränderungen, die in den 80er und 90er Jahren begonnen haben.
Was meinst Du genau mit „auf der Strecke geblieben“?
ML: Ich habe die Kriegsenkel ja so charakterisiert, dass viele das Streben nach Selbstverwirklichung sehr ernst genommen haben und dafür oftmals einen hohen Preis bezahlt haben. Es war noch vor 40 Jahren gut möglich, in verschiedenen gesellschaftlichen Nischen zu leben und zu überleben. Heute ist das extrem schwierig oder fast unmöglich geworden. Deswegen hadern viele mit sich und den eigenen Entscheidungen. Sie geben sich die Schuld, dass sie wohl nicht ganz bei Trost gewesen sein müssen angesichts manch riskanter Entscheidung, die sie heute vielfach ohne Rente dastehen lassen.
Aussöhnung heilt alte Wunden
Welche Lösungswege bieten sich in diesen Situationen an?
ML: Meiner Erfahrung nach gibt es die Möglichkeit zur Aussöhnung. Etwa, wenn man sich im Gespräch die persönliche Entscheidung, ihren gesellschaftlichen Kontext oder den Zeitgeist noch einmal vergegenwärtigt. Diese Entscheidung im Zusammenhang zu sehen, erleichtert die Aussöhnung mit der eigenen Biographie. Ein krummer Lebenslauf muss dann nicht zwangsläufig auch etwas mit einer krummen Persönlichkeit zu tun haben. Dieser ist eher Ausdruck für die Suche nach Sinn und Selbstverwirklichung. Die Einsamkeit und das Leid sind dann zwar nicht weg, aber sie sind leichter zu tragen.
Wenn ich die Situation der 80er und die 2000er Jahre mit der aktuellen Gegenwart vergleiche, dann ist doch rein subjektiv die Überfrachtung des Einzelnen durch Social Media, Informations-Overkill, gesellschaftliche und politische Spannungen sowie Krisen wesentlich anstrengender für jeden Einzelnen geworden, oder? Das heißt, die persönliche Orientierung und innere Balance sind schwieriger zu finden.
MG: Das stimmt. Meine Arbeit besteht darin, auch mit Blick auf Corona, zu klären, wie gerade Kriegsenkel mit dieser unsicheren Situation besser umgehen können. Wichtig ist dabei für mich die Orientierung an biographischen Gewissheiten. Also die Frage, gab es früher schon ähnliche Situationen, wie habe ich das damals bewältigt und was habe ich daraus gelernt. Es geht also darum, nicht im Außen zu suchen, sondern auf Stationen im Lebensweg zu schauen, die ich gut bewältigt habe. Daran an schließt sich die Frage, was ich daraus für die heutige Situation mitnehmen kann und welche Bewältigungsstrategie sinnvoll ist.
Biographiearbeit fördert die Selbstwirksamkeit
Kann ich das Verhalten in früheren Situationen überhaupt mit einer so umfassenden existentiellen Krisenerfahrung wie der gegenwärtigen Corona-Pandemie und den vielen daraus resultierenden Ängsten vergleichen?
ML: Das Ziel meiner Arbeit mit der Biografiearbeit ist, dass ich meinen Klienten helfe, sich auf die Selbstwirksamkeit zu fokussieren und daran anzuknüpfen. Das lote ich aus. Wo habe ich mich bereits als selbstwirksam erlebt? Ich gebe Dir recht, dass Corona eine besondere Krisensituation ist. Im Zweifelsfall sind wir hier auch direkt mit dem Tod konfrontiert. Gerade Kriegsenkel, waren immer wieder auch mit Brüchen in ihrem Leben konfrontiert, nach dem Motto „stop and go“. Daraus habe ich die positive Affirmation „stop and grow“ entwickelt. Nutze den Stillstand, um persönlich zu wachsen. Und sich mit anderen Menschen zu verbinden. Genau hier hat Corona ja ganz neue digitale Möglichkeiten geschaffen, auch bildlich, überregional und in thematisch vernetzten Gruppen konstruktiv miteinander in Kontakt zu treten.
Sowas lässt sich nicht nur für Hate-Speech, sondern auch zur positiven Bewusstseinsentwicklung nutzen. Es tut gut, mit Menschen in Kontakt zu treten, die auch im Aufbruch sind.
ML: Genau. Das gleiche Prinzip verfolge ich mit meinem Live-Calls. Da sind regelmäßig 60 bis 80 Teilnehmer dabei. Die Menschen erzählen von den vertraulichsten und persönlichsten Dingen. Es entsteht ein besonderer Raum, der die Leute tief berührt, eine Art von Community. Den Live-Call gibt es bereits seit vier Jahren, aber seit der Pandemie wird er angenommen und entfaltet eine neue Dynamik. Das ist neu: Es ist eine große Sehnsucht da, sich zu verbinden. Und sich einzugestehen: Ich brauche den anderen. Ich empfinde das als große Wandlung. Bei den Live-Calls sind nicht nur Teilnehmer aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, sondern sogar bis aus den USA und Australien dabei.
Alte Denkgewohnheiten hinter sich lassen
Corona ist also auch ein Schritt, eine Einladung, aus alten Denkgewohnheiten auszusteigen und sich neu zu orientieren?
ML: Das würde ich unterstreichen. Es geht darum, aus diesem normativen, festgelegten Denken herauszukommen, das uns permanent einschränkt. Also als Paar muss man sich nach sechs Wochen entscheiden und dann für 80 Jahre gemeinsam im Ehebett zu liegen. Das klingt krass. Es geht aber eigentlich darum, zu schauen, was sind meine Bedürfnisse und wieviel Raum brauche ich persönlich. Kriegsenkel haben seit den 70er Jahren andere Lebensmodelle verfolgt. Ich denke da zum Beispiel an ein Paar mit einem neunjährigen Kind, das bewusst nicht zusammen, sondern ein paar Häuser entfernt voneinander wohnt. Zur Frage des Kindes: Habt ihr euch nicht lieb? haben wir als Antwort herausgearbeitet, dass gerade dieses getrennte Wohnen die Liebe stärkt.
Vielleicht noch mal ein Blick auf unsere Eingangsfrage: Welche Essentials möchtest Du den Bloglesern in punkto Weihnachten noch mit auf den Weg mitgeben?
ML: Vieles haben wir schon besprochen. Unter anderem ging es auch um die sozialen Milieus, die die Leute verlassen haben. Zu Weihnachten kommen sie also nach Hause zurück und werden dort nicht anerkannt, obwohl es die loyalsten Kinder sind. Das ist sehr typisch. Viele fragen sich, warum das so ist. Eine mögliche Antwort könnte sein, weil du dein soziales Milieu verlassen hast. Dadurch entsteht häufig eine gegenseitige Entfremdung. Ein Beispiel aus meiner Praxis ist jemand, der Künstler geworden ist und zurück in das Haus seines Vaters kommt, der Jurist ist. Hier prallen zwei Weltbilder, Loyalitätskonflikte und unterschiedliche Werteauffassungen aufeinander: Während die Kriegskinder eher auf Sicherheit gesetzt haben, ist das Lebensgefühl der Kriegsenkel von Aufbruch und neuen Werten getragen. Als weiterer Punkt kommt dann noch eine Geschwisterrivalität dazu, zu denen, die in der Familie geblieben sind. Dazu biete ich etwa Geschwister-Workshops an.
Neue Sicht auf Weihnachten
Worum geht es an Weihnachten, in einem Satz zusammengefasst?
ML: Es geht darum, sich nicht von festgefahrenen, normativen Vorstellungen von Weihnachten runterziehen zu lassen. Es gilt, neue und für einen selbst angemessene Formen zu finden, diese traditionellen Feste zu feiern. Man könnte also auch das Weihnachtsessen vor dem Monitor in virtueller Anwesenheit von Freund:innen aus den verschiedensten Teilen der Welt feiern. Dazu würde ich gerne ermutigen.
Nächster Live-Call am 5. Januar:
Den nächsten Live-Call für Kriegsenkel:innen auf Zoom bietet Ingrid Meyer-Legrand am Mittwoch, 5. Januar 2022 von 19.30 bis 20.30 Uhr an. Den Link dazu bekommen Interessenten zugeschickt unter E-Mail: mailto@Meyer-Legrand.eu.
Zur Person
Ingrid Meyer-Legrand hat Sozialwissenschaften, Geschichte und Sozialarbeit studiert und führt als Systemische Therapeutin, Supervisorin und Coach ihre eigene Praxis in Berlin und Brüssel. Sie besitzt die European Certification für Psychotherapy (ECP) und ist als Heilpraktikerin für Psychotherapie tätig. Ebenso ist sie Lehrbeauftragte an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Berlin. Seit vielen Jahren hält sie Vorträge, Seminare und Workshops zum Thema Kriegsenkel. Ihr Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ von 2016 ist inzwischen in 3. Auflage erschienen. In Vorbereitung ist ihr neues Buch „Kriegsenkel: Endlich ankommen! Neue Zukunftsperspektiven durch Versöhnung mit deiner Geschichte.“