Fallstricke der Selbsterforschung
Selbsterforschung als Abenteuer: Nach der Lektüre zahlreicher interessanter Wirtschaftsbücher habe ich die Sommerpause genutzt, um zur Abwechslung mal in eine ganz andere Art des Denkens einzutauchen. Das 2016 auf Deutsch erschienene, autobiographische Werk „Rückkehr nach Reims“ löste bereits nach seiner Veröffentlichung 2016 einen Hype aus, weil der französische Autor Didier Eribon darin eine Erklärung lieferte, warum Europas traditionell eher links orientierte Arbeiterklasse plötzlich rechte Populisten wählt.
Obwohl Eribon heute als in Paris lebender Universitätsdozent, Buchautor, Journalist und Philosoph eher zur intellektuellen Elite des Landes gehört, hat mich besonders seine Schilderungen fasziniert, wie er auf der Suche nach den eigenen Wurzeln nach Jahrzehnten wieder ins Arbeitermilieu der Stadt seiner Kindheit und Jugend eintaucht und sich ihm dort einschneidende Erkenntnisse offenbaren.
Erinnerung an prügelnden Vater
Aufhänger der Geschichte ist der Tod und die Beerdigung des Vaters, den Eribon als grob und prügelnd in Erinnerung hat. Die Beziehung ist alles andere als liebevoll. Gemeinsam mit der Mutter sieht er sich bei seiner Rückkehr ein altes Fotoalbum an: dies bildet den Ausgangspunkt seiner literarischen Selbsterforschung, die autobiographische Analyse mit soziologischer Reflexion verbindet. Beim Durchblättern des Albums und dem Blick auf die Physiognomien der Häuser, Kleider, Inneneinrichtungen und Körper realisiert Eribon, wie sehr er als Homosexueller unter der Homophobie seines Herkunftsmilieus und unter Schamgefühlen gelitten hat. Gerade der äußere Habitus und die Sprache einer armen Arbeiterfamilie waren es auch, die es ihm schwer gemacht haben, in der Pariser Gesellschaft Fuß zu fassen. Lange Zeit schwieg er darüber, dass er der Sohn eines Arbeiters und einer Putzfrau ist.
Mit der Verschleierung seiner Herkunft reiht sich der Starintellektuelle in die allgemeine Geschichte Frankreichs ein. Seine scheinbar nur biographischen Notizen fügen sich in den allgemeinen Gang der französischen Gesellschaft. Eribons Biographie wird exemplarisch für das Versagen der Eliten, für den Verrat an den „einfachen Leuten“. Den Arbeitern, die heute keine Arbeit mehr haben wie sein älterer Bruder. Ergänzend zu seinen biographischen Einsichten bettet der Autor damit eine Analyse des sozialen und intellektuellen Lebens in Frankreich seit den fünfziger Jahren ein. Er spürt auch den Ursachen nach, warum ein Teil der ursprünglich kommunistisch geprägten Arbeiterschaft zum Front National übergelaufen ist.
Chronist des schwulen Lebens
Nach dem Philosophiestudium wollte Eribon ursprünglich Lehrer werden, entschied sich dann aber dafür, als Journalist über Philosophie und Literatur, später auch über die Geschichte des schwulen Lebens zu schreiben. Durch seine Gründlichkeit, aber auch durch Humor und Unerbittlichkeit hoben sich seine Rezensionen im „Nouvel Observateur“ von der etwas gefälligen und oberflächlichen Pariser Literaturkritik ab.
Darüber hinaus hat Eribon mit einer bis heute unübertroffenen Biografie den Grundstein zur Forschung über den Philosophen Michel Foucault gelegt. Mit zunehmendem Selbstbewusstsein und der Berufung auf einen Lehrstuhl an der Universität in Amiens hat sich dann passenderweise die gesellschaftliche Anerkennung als einer der gefragtesten Intellektuellen Frankreichs eingestellt. Eribon wusste dabei auch durchaus geschickt seine Kontakte innerhalb des homosexuellen Netzwerks zu nutzen.
Neu an Eribons Text ist die Beschreibung seiner Sprachverwandlung und der damit einhergehende Weg eines jeden bewussten jungen Homosexuellen in die Großstadt Paris als Einstieg in seinen Aufstieg. Penibel und meisterhaft nimmt er in detaillierten Beschreibungen seine Sprachverwandlung unter die Lupe. „Auch das Sprechen“, schreibt er, „musste ich von Grund auf neu lernen: fehlerhafte Aussprachen oder Wendungen korrigieren, Regionalismen verlernen“.
Spannend wird es dann, wenn Eribon den herkunftsbedingten inneren Widersprüchen auf den Grund geht und der „Hölle der menschlichen Negativität“ nachspürt, die auch den jungen Michel Foucault beschäftigt hat. An diesem Ort wird den „negativen Leidenschaften“ nachgegangen, aber auch eine Energie freigesetzt, die dem Individuum die Erfindung neuer Identitäten ermöglicht.
In der Hölle negativer Leidenschaften
In dieser Hölle lebt der junge Eribon, der einen angeblich „verweiblichten“ Kameraden gnadenlos schikaniert und später zum Verteidiger der Schwulenrechte wird. Hier treffen wir den Journalisten Eribon, der einen Frontalangriff auf die Political Correctness startet und sich dann zu einem renommierten Denker der Minderheiten entwickelt. Nicht zuletzt findet man hier auch den Privatmenschen Eribon, der seiner Familie drei Jahrzehnte lang den Rücken kehrt und dann ein Buch über sie schreibt. Das wird zu einem Bestseller, führt aber beinahe auch zum erneuten Bruch mit der Familie. Aus meiner Sicht verdient das Werk absolut das Prädikat: Lesenswert!
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Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, aus dem französischen übersetzt von Thomas Haberkorn, Suhrkamp Verlag 2016, 238 Seiten, ISBN: 978-3518072523.
Foto: Markus Blaschka