Skip to main content

Jetzt unverbindlich anfragen: +49 8035 87 30 53 | office@drblaschka.de

Scrum: Expertenwissen zu Dumpingpreisen?

Geiz ist geil: Für eine bekannte Filialkette, die damit den Verkauf von günstigen Elektronikartikeln befeuern will, mag dieser Spruch ja zum Erfolgsrezept geworden sein. Wenn gestandene Unternehmen sich davon allerdings verleiten lassen und glauben, hochwertiges Expertenwissen eines Scrum-Masters vermeintlich billig für die Firmentransformation einkaufen zu können, geht der Schuss auch mal gehörig nach hinten los. Das zeigt ein aktuelles Beispiel aus meiner Praxis.

Eigentlich hat ja alles recht hoffnungsfroh begonnen. Auf meinem Xing-Profil  finden sich unter der Rubrik „Ich biete“ bei mir die Einträge „Scrum Master“ und „Agile Coach“. Daraufhin meldet sich zum wiederholten Mal eine mir bislang unbekannte Dame mit einer Anfrage für einen Scrum Master. Klar, das ist Personalvermittlung und man könnte drüber reden, ob das jetzt eine Kontaktaufnahme schon rechtfertigt.

Aber hey, immerhin ein Projekt mehr – also Umsatz. Da sagt kein selbstständiger Unternehmer „Nein, danke“. Die Details der Anfrage würde sie mir gerne per Mail schicken, erklärt die Interessentin. Was der Auftraggeber, offenbar ein Telekommunikations-Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen, genau sucht, erfahre ich kurz darauf in der elektronischen Rohrpost:

Gesucht: Agiler Coach/ Professional Scrum Master (m/w)

Auslastung: 

4 Tage pro Woche vor Ort

Anforderungen: 

– Mehrjährige Erfahrung in einem mittelständischen Unternehmen oder noch besser Konzernumfeld als Agiler Coach

– Erfahrungen in der agilen Transformation von Teams, die bisher klassisch / nach Wasserfall arbeiten, zu Scrum Teams

– Beherrschen der agilen Werkzeuge wie Atlassian Jira und Confluence

– Ausgeprägte Team-, Kommunikations- und Präsentationsfähigkeiten

Startdatum: in gut 3 Wochen, von der Jahreszeit her im Hochsommer

Enddatum: bis zum Jahresende

Kurzfristige Suche nach Scrum-Experten

Da mich – und die Kollegen im Netzwerk – solche Anfragen häufiger erreichen, lese ich die Zeilen mit einer gewissen Skepsis. 80 Prozent  Auslastung ist viel, aber machbar. Das Startdatum ist erstaunlich kurzfristig. Also drängt sich der Eindruck auf, man hat bisher niemanden gefunden. Oder besetzt die Position kurzfristig neu, weil der Vorgänger hingeschmissen hat. Die Erfahrung sagt – und das sollten Unternehmen eigentlich wissen -: Gute Leute stehen selten auf der Straße und sind nicht unbedingt kurzfristig verfügbar.

Doch nun zu den Anforderungen, die ich, ehrlich gesagt, happig finde. Sie sind für mich erfüllbar, entsprechen jedoch nicht unbedingt dem Standard-Profil eines frisch gebackenen Scrum Masters. Eher dem eines Profis mit mehrjähriger Erfahrung. Und, das weiß ich aus meinen aktuellen Aufträgen, im Konzernumfeld sieht die Welt in der Realität immer etwas komplexer aus. Da braucht man auch Erfahrung im Umgang mit einer großen Organisation, sollte vielleicht auch in einem Management-Gremium auftreten und präsentieren können. Alles kein Standard. Ach ja, und die Präsentationsfähigkeiten stehen extra drin… na dann…

Job-Anfrage ohne Honorar-Rahmen

Aber zurück zur Anfrage: Ich schreibe der Dame ein Mail, in der ich erkläre, warum ich ihre Anforderungen erfülle und lege mein Kurzprofil bei. Wer die Anzeige jetzt nochmal genau anschaut, merkt schnell, dass eine ganz entscheidende Information gar nicht auftaucht: Richtig, das Honorar fehlt komplett. Das ist eher ungewöhnlich, deshalb frage ich nochmal nach:

„Hallo Frau …,

danke für die Infos zur Projektanfrage.

Um Ihnen dazu eine qualifizierte Rückmeldung geben zu können, wäre die Frage nach dem Honorarsatz schon relevant. Transparenz und Offenheit als agile Werte sind mir wichtig, nicht nur in der Rolle des Agilen Coachs. Um auch Ihnen Offenheit zu bieten: Die geforderte Auslastung erscheint mir hoch, das Startdatum ist kurzfristig. Die geforderte Erfahrung beinhaltet hoffentlich auch das Verständnis des Kunden, dass dafür ein entsprechender Honorarsatz anzusetzen ist.

Ich bin seit 25 Jahren als IT-Professional in unterschiedlichen Projekten im Einsatz, biete exzellente Skills im Bereich Kommunikation, Präsentation (Gremien- und Top-Management-erfahren, auch im Konzern), Konfliktlösung und -klärung. Nicht nur als Coach (u.a. auf Vorstandsebene) bin ich erfahrener Sparringspartner für Führungskräfte, Teams und Organisationen. Aktuell begleite ich u.a. seit einem Jahr die agile Transformation bei einem DAX-Konzern (Fokus auf Führungskräfte und Teams).

Mein Profil finden Sie anbei, ich freue mich über Ihre Rückmeldung. 

Viele Grüße

Markus Blaschka“

„Stundensatz von 90 Euro all-in“

Und tatsächlich erhalte ich umgehend eine Rückmeldung:

„Hallo Herr Blaschka,

wir suchen hier eher einen Junior Scrum Master – ich denke, dafür sind Sie schon viel zu erfahren. Deshalb habe ich auch nur eine Stundensatzvorgabe von 90 € all- in.

Gerne komme ich wieder mit passenden Projekten auf Sie zurück!

Liebe Grüße….“

Da platzt mir doch die Hutschnur, ganz ehrlich. Aus den folgenden und wie ich meine nachvollziehbaren Gründen.

Wenn man einen Junior Scrum Master sucht, sollte man das bitte auch in einer Suchanzeige so zum Ausdruck bringen. Wer mein XING-Profil anschaut, sieht sehr schnell, dass ich nicht gerade ein frisch gebackener Uni-Absolvent bin. Sondern eine Promotion habe, langjährige Berufserfahrung und vielleicht auch als gut positionierter Trainer nicht mehr für 90 Euro „all-in“ arbeiten werde. Mein üblicher Tagessatz bewegt sich im Rahmen von zweitausend Euro, nicht bei 720 Euro.

Selbstausbeutung als Freiberufler?

Wie soll man als Freiberufler von solchen Aufträgen dauerhaft leben? Ich finde das wirklich unethisch. Wenn wir davon ausgehen, dass 90 Euro all-in der Honorarsatz sind, dann würde der Tagessatz 720 Euro ausmachen. Wobei ich hier schon wieder befürchte, dass zusätzlich die Erwartung besteht, ein bis zwei Stündchen am Tag noch „drauflegen“ zu dürfen. Also zehn Stunden bleiben und acht Stunden abrechnen. Aber bleiben wir mal bei acht Stunden, also 720 Euro am Tag.

Das ist ein all-in-Satz, der bedeutet, er ist inklusive aller Nebenkosten. Also darf der Freiberufler davon Anreise, Übernachtung, alle Spesen (Taxi etc.) sowie natürlich die eigene Verpflegung zahlen. Nüchtern und realistisch gerechnet, bleiben da nach meiner Erfahrung 500 Euro – wohlgemerkt vor Steuern! – übrig. Das macht dann in der Woche 2.000 Euro Rohertrag. Das mag für manchen viel sein. Nur schrumpft der Betrag in einem Umfeld, wo permanente Weiterbildung Voraussetzung ist, auch wieder schnell zusammen. So schlägt z.B. allein eine Weiterbildung zum Scrum Master mit 1.400 Euro zu Buche.

Und damit ist man noch nicht fertig. Es kommen in aller Regel noch die Weiterbildungen  zum Product Owner sowie für eines der Frameworks zur Skalierung wie LeSS, SAFe, Nexus oder Scrum@Scale hinzu. Oder auch für andere Methodiken wie Kanban, die Atlassian-Tools Jira und Confluence.

Blick auf die Kostenrechnung

Nüchtern betrachtet, kann ein Freiberufler etwa 150 Tage verkaufen – der Rest geht drauf für Organisation, Akquise, Marketing, Networking, Weiterbildung und ja, auch Urlaub und Krankheit. Selbst wenn wir jetzt den vollen Satz von 720 Euro rechnen, kommen wir damit zunächst auf einen Jahresumsatz von 108.000 Euro. Realistisch können wir wohl eher von 80.000 bis 90.000 Euro ausgehen, denn die wenigsten schaffen es auch wirklich, immer ein Anschlussprojekt zu finden.

Davon gehen aber noch die Kosten ab, die sich üblicherweise auf 30.000 bis 40.000 Euro im Jahr belaufen. Damit bleiben vielleicht 55.000 Euro übrig. Wenn man davon noch leben will, vielleicht einmal eine Familie gründen, ein Haus finanzieren und später noch eine Altersvorsorge haben möchte, wird es einfach schwierig.

Was ist ein realistischer Stundensatz?

Interessanterweise finden sich auf den typischen Freiberufler-Portalen wie gulp.de auch zahlreiche Daten und Infos zum Thema Stundensatz. So weist GULP einen Stundensatz von 103 Euro für 256 ausgewertete Profile mit dem Schwerpunkt Scrum aus (Abruf am 27.07.2018). Die Übersicht nach Stundensatz zeigt auch einen klaren Peak bei 100 Euro. Wobei  sieben Prozent der Befragten einen Satz von 130 Euro und gut vier Prozent sogar 150 Euro abrechnen.

Als dritter Grund kommt aus meiner Erfahrung dazu, dass solche Anfragen keine fähigen Profis mit langjähriger Erfahrung liefern. Im Umfeld einer größeren Organisation zu agieren, erfordert Erfahrung. Vermutlich auch mehr Führungserfahrung im Umgang mit Teams, als ein reiner SW-Entwickler mit frischem Scrum Master-Zertifikat mitbringt. Spätestens, wenn man auch die identifizierten Impediments dem Management-Team präsentieren soll, wird’s eng, wenn man nicht gewohnt ist, diese Aussagen auch so einer Zielgruppe vorzustellen. Oder gar noch zu argumentieren, wenn kritische Fragen kommen. Und die kommen, glauben Sie mir.

Was passiert also, wenn wir nun einen „Junior Scrum Master“ mit einer (zu) anspruchsvollen agilen Transformation beauftragen? Ich glaube, dass in einem hohen Prozentsatz aller Fälle der Junior scheitern wird. Weil er nicht vor einem Gremium auftreten kann. Weil er seinen Einfluss überschätzt. Weil er noch nicht verstanden hat, dass ein Unternehmen ein System ist, das ich nicht direkt beeinflussen kann. Weil er zu wenig Erfahrung mit unterschiedlichen Teams in einer fachlichen Führungsrolle hat. Und – nicht eben unwichtig – , weil es eben auch ein Stück Lebenserfahrung braucht.

Firmen und „Billig-Experten“ werden zu Verlierern

Ein weiterer Punkt ist zu bedenken. Welche Erfahrung zieht man im Unternehmen aus einer gescheiterten Transformation? Sie ahnen es sicher schon: „Also, das mit der Agilität und Scrum und so, schaut auf dem Papier ja recht nett aus, aber bei uns hat das nicht funktioniert.“  Die eigentlichen Gründe sucht man natürlich nicht, denn man hat ja vielleicht schon gelernt, dass die Schuldfrage selten zum Ziel führt. Im Zweifelsfall schiebt man es noch auf den unfähigen Externen, der Scrum Master war vielleicht nicht der richtige… oder zu unerfahren.

Selten werden die Entscheider aber zum Ergebnis kommen, dass man einfach nicht bereit war, in die Suche (und Bezahlung) nach einem Profi etwas Aufwand zu stecken. Dass man davon ausgegangen ist, dass ein erfahrener Agiler Coach jederzeit leicht auf dem Markt einzukaufen ist. Und hey, Marktwirtschaft und so, eine Dienstleistung, die gut verfügbar ist, kann man über den Preis besser einkaufen. Also billiger. Sagen wir mal 80 Euro, das schreibt einem ja schon der Handwerksmeister auf die Rechnung. Legen wir also noch ‚nen Zehner drauf, aber 90 Euro, das muss jetzt wirklich reichen. Sind ja dann schon über 700 Euro am Tag. So rechnet der Controller mit seinem ordentlich sechsstelligen Jahresgehalt. Bravo, Chapeau… Ziel erreicht!?

Fazit: Warum schreibe ich das alles?

Ich habe zwei Anliegen. Erstens würde ich mich freuen, wenn wir in der Branche zu klareren und damit trennschärferen Profilen bzw. Rollen kommen. Ein Junior Scrum Master ist eben in der Rolle des Scrum Masters (inkl. Führungserfahrung) eben noch ein Frischling. Er kann die Methode Scrum in einem oder mehreren Teams einführen.

Ein Senior Scrum Master ist dagegen jemand, der entsprechende Führungserfahrung mitbringt und vielleicht auch vor einem Management-Gremium präsentieren kann. Der weiß, wie man auch in größeren Organisationen einen Kulturwandel anschubsen kann.

Und der Agile Coach bringt noch mehr Kompetenzen und Erfahrungen mit.

Ich merke selbst immer wieder, wie mir meine langjährige Erfahrung im Business Coaching ein ganz anderes Verständnis von Organisationen und Menschen gebracht hat. Die ich in der Rolle des Agilen Coachs unbedingt brauche, weil sie mir ein besseres Verständnis bringt für das, was passiert. Ein Agiler Coach kennt vielleicht auch mehr Themen, Methoden und Werkzeuge als nur Scrum, hat sich vielleicht mit Kanban oder Lean Management beschäftigt. Und ja, der darf als ausgewiesener Profi, der sich zielsicher in einem komplexen Umfeld bewegen kann, auch mehr kosten als nur 90 Euro die Stunde – „all-in“.

Ethik und Erfolg in der Auftragsvergabe

Zweitens möchte ich erreichen, dass Unternehmen und ganz besonders auch Vermittler Anfragen verschicken, die besser auf die erwarteten Ziele angepasst sind und damit auch eine ethisch vertretbare Beauftragung beinhalten. Alles unter 100 Euro empfinde ich persönlich als Ausbeutung der manchmal prekären wirtschaftlichen Situation von Freiberuflern. Das sind oft Menschen, die viel Erfahrung mitbringen, sich aber als Person nicht so gut verkaufen können. Und ja, auch ein „Junior Scrum Master“ sollte mindestens 100 Euro bekommen, weil dank der üblichen all-in-Regelung als Rohertrag eben nur 80 Euro pro Stunde übrigbleiben.

Unternehmen sollten sich auch klar sein, dass die Besten nicht mal eben schnell in zwei bis drei Wochen langfristig verfügbar sind. Oder dass man eben auch bereit ist, in ein Thema wie Scrum oder Agilität zu investieren. Denn für den Fall, dass es schiefläuft, weil man zu billig eingekauft hat und dann scheitert, ist eigentlich viel mehr Geld verbrannt als bei realistischer Planung. Und nicht nur Geld, sondern auch viel interne Ressourcen. Schade, wenn der Geiz einen dann im Endeffekt selbst gehörig am Kragen packt.

Foto: shutterstock