Die Zukunft nach Corona
Ist es legitim, sich jetzt, im Angesicht eines drohenden zweiten Lockdowns, Gedanken über die die „Zukunft nach Corona“ zu machen? Aus meiner Sicht ist es nicht nur legitim, sondern sogar not-wendig. So bleibt der gedankliche Freiraum für die Gestaltung der eigenen Zukunft erhalten. Und zwar die Gestaltung trotz ständiger Veränderung der äußeren Rahmenbedingungen und vieler bleibender Ungewissheiten.
Millionen Anfragen an einem Tag
Im März diesen Jahres versetzten die drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie die meisten Menschen in Deutschland in eine Art Schockstarre. Fast sämtliche der täglichen Gewohnheiten gerieten im Angesicht des Lockdowns unversehens aus dem Tritt. Zeitgleich sorgte eine Veröffentlichung des Trend- und Zukunftsforschers Matthias Horx im Netz für Aufsehen.
Der 65-Jährige beschäftigte sich in einem zehnseitigen Aufsatz mit „der Zukunft nach Corona“. Nach 1,5 Millionen Textanfragen innerhalb von 24 Stunden, weltweiten Reaktionen und Übersetzungen in 20 Sprachen folgte im Mai ein kleines Büchlein zum Thema.
Für mich ist der Ansatz von Horx aus mehreren Gründen spannend. Zum einen klang es beinahe unerhört, dass sich da einer gleich zu Beginn der Krise Gedanken über die Zeit „nach Corona“ machte. Wie soll das gehen? Zum anderen empfand es offenbar eine Vielzahl von Menschen als wohltuend, dass ausgerechnet ein Zukunftsforscher eine Alternative zur Angst-und-Katastrophen-Prosa aus Medien, Sozialen Medien, Wissenschaft und Politik anbot.
Der Blick zurück aus der Zukunft
Ich habe mir das Büchlein nochmal zur Hand genommen und recherchiert, wie Horx selbst mit der Entwicklung seiner Zukunftseinschätzungen umgeht. Nach einer kurzen Entspannungsphase im Sommer erwartet uns ja jetzt alle offenbar ein „heißer Herbst“. Auch wenn die Außentemperaturen gegenwärtig eher für Froststimmung sorgen. Mit seinen Fragen und seiner Herangehensweise der Re-Gnose ergänzt Horx aus meiner Sicht gut die bisherigen Beiträge unserer Blogautoren. Speziell, wenn es um Tipps für die Bewältigung von Krisen, von tiefgreifenden Veränderungsprozessen und der persönlichen Neuausrichtung geht.
Statt des bekannten Blicks in die Zukunft anhand von Pro-gnosen wählt Horx die umgekehrte Perspektive: Wie würden wir den jetzigen Moment beim Blick zurück aus der Zukunft heraus beurteilen? „Selbst-Veränderung durch rückblickende Vorausschau“ nennt Horx dieses Instrument der Re-Gnose. Indem ich mich gedanklich und schöpferisch in die Zukunft versetze und aus ihr heraus die aktuelle Situation und ihre Entwicklungsmöglichkeiten betrachte, nehme ich der Gegenwart ihren Schrecken. Statt die Perspektive angstbesetzt einzuengen, ermuntert Horx seine Leser dazu, die Sicht freizubekommen: auf positive Chancen, neue Ressourcen, mehr Selbstwirksamkeit und einen damit einhergehenden Bewusstseinswandel. Der Zukunftsforscher spricht dabei von „future mind“ oder „innerer Zukunftskompetenz“.
Emergenz als Prinzip der Evolution
Nicht der Untergang, die Apokalypse oder die Vernichtung sind aus einer Sicht das oberste Prinzip der Welt. Sondern die Emergenz: die Eigenschaft von Systemen, sich durch spontane Neubildungen immer wieder neu zusammenzusetzen. „Das ist der Ursprung und die Botschaft des Lebens, deren Träger wir sind“, sagt Horx. Damit sind wir selbst es, die unsere Zukunft aktiv erschaffen und durch Krisenbewältigung reifen. Wie wendet Horx diese Einsichten nun konkret im Buch an?
„Wir werden uns wundern“, lautet die wiederkehrende Phrase, mit der er die Neubewertung der anfänglich als Einschränkung empfundenen Corona-Maßnahmen darstellt. Bei einer Tasse Kaffee blickt er fiktiv vom September aus zurück auf die Situation im März. Aus dem Zwang, zum Beispiel nicht mehr rauszugehen, nicht mehr ständig erreichbar zu sein, alles einkaufen, zu feiern oder in Urlaub fahren zu können, erwächst demnach eine neue Freiheit. Aus Verzicht wird Reichtum. Wir wundern uns. Den Siegeszug der Video- und Telefonkonferenzen samt Homeoffice, die Neuausrichtung krisenanfälliger globalisierter Wertschöpfungsketten oder den Trend zu langen Spaziergängen und Bücherlektüre nimmt Horx dabei passend vorweg.
Corona als Chance zur Neubesinnung
Die Krise der Pandemie, so Horx, bietet durch ihre Verlangsamung vieler überhitzter Alltags- und Wirtschaftsprozesse die Chance zur Besinnung, zur Neuorientierung und einem tiefgreifenden kulturellen Bewusstseinswandel. So legen Krisen nach Horx „zuweilen schmerzhaft“ die Struktur der uns umgebenden Systeme offen.
Die Intensität von Partnerschaften ohne Ablenkung, leere Einkaufsmeilen, Straßen und Flughäfen oder riesige Vergnügungsdampfer, die zu schwimmenden Seuchenstationen werden: Sie lassen viele Illusionen platzen und uns in einer neuen Wirklichkeit „aufwachen“. Umgekehrt steigt das Bewusstsein für die „Systemrelevanz“ von Berufen wie Krankenschwester, Kassiererin oder Paketfahrer.
Horx zieht Erkenntnisse aus der Hirnforschung und Neurobiologie heran, um unsere Bewältigungsstrategien beim Erleben neuer Wirklichkeiten in Krisenmomenten deutlich zu machen. Er vergleicht dies mit existentiellen Situationen, wenn sich zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit eine immer größere Verständnislücke auftut. Angesichts dieser schmerzlich erlebten „kognitiven Dissonanz“ reagiert der Mensch im allgemeinen häufig mit Abwehr- oder Vermeidungsstrategien. Nicht zuletzt daraus beziehen Verschwörungstheorien oder populistische Vereinfachungen ihre Kraft.
Re-Gnose und die Psychologie der Gesundheit
Den Ausweg sieht der Zukunftsforscher aus Wien in der Re-Gnose, einer „Psychologie der Gesundheit“. In ihr sieht er einen Ansatz, „sich durch die Krise selbst verwandeln zu lassen„. „Wir verändern unsere Wahrnehmungsformen, und so entsteht Zukunft als neue Wirklichkeit.“
Mit Blick auf ein Unternehmen läge der Ansatz in einer „ernsthaften Neurorientierung“, der Suche nach einem „neuen Zukunfts-Sinn“, der auch soziale und umweltökologische Aspekte miteinbezieht. Also nicht: Wie kann ich den Markt erobern und möglichst effizient die Umsätze steigern. Sondern: Welche Produkte, Dienstleistungen und Angebote mache ich als Unternehmen der Gesellschaft, der Umwelt, den Mitarbeitern.
Horx gibt zu, dass diese Sicht möglicherweise aktuell noch nicht mehrheitsfähig ist. Er sieht aber deutliche Anzeichen in der Gesellschaft für eine „ernsthafte Neuorientierung“ nach neuen Formen des Zusammenlebens. Sie vereinen das Bedürfnis nach Individualität und Gemeinschaft. Ein Beispiel sind die dynamischen Kooperationsinseln des „Co-Working“, „Co-Gardening“ oder „Co-Living“.
Überwindung der Angstspirale
Ein weiterer zentraler Ansatzpunkt des Wiener Zukunftsforschers ist die Überwindung der allgegenwärtigen Angstspirale in unserer modernen Wohlstandsgesellschaft. Diente die Angst ursprünglich durch Adrenalinausschüttung zur kurzfristigen Mobilisierung körpereigener Kräfte in Kampf oder Flucht existenzsichernd, so schädigen das „Rundum-Bombardement“ von Angstmachendem und dauerhafte Ängstlichkeit heute körperliche und seelische Gesundheit gleichermaßen. Im selben Maß werde Angst in unserer „Erregungs- und Befürchtungsgesellschaft“ zum Machtfaktor mit Deutungsanspruch missbraucht.
Das Gegenmittel zur allgemeinen Überängstigung sieht Horx in der Strategie des „Corona-Gefühls“. Der Soziologe, langjährige Journalist und Trendforscher vergleicht dies mit der sich verstärkenden Angst vor dem Zahnarzt und drohendem Kontrollverlust sowie dem erlösenden Gefühl der Angstüberwindung nach der überstandenen Prozedur. Neurobiologisch werde dabei Adrenalin (gefäßverengend und fokussierend) durch das körpereigene Glückshormon Dopamin ersetzt, das den Blick weitet und die langfristige Motivations- und Antriebssteuerung steuert bzw. verbessert.
Zukunft entsteht im Bewusstsein
„Erstaunlicherweise machten viele Menschen in der Corona-Krise die Erfahrung, wie einem massiven Kontrollverlust das Gefühl innerer Selbstwirksamkeit erwuchs.“ Der einengenden Quarantäne und Isolation folgte das Bedürfnis für ein neues, kreatives Miteinander. Es zeigte sich nicht nur im kraftvollen Bild gemeinsam auf ihrem Balkon singender oder musizierender Menschen im In- und Ausland. Sondern auch in zahlreichen neuen Unterstützungs- und Gemeinschafts-Initiativen. Dies gelte es in Zukunft weiterzuentwickeln.
Horx‘ Fazit: „Ich bin fest überzeugt, dass der Schlüssel zur wahren Zukunft in unserem Bewusstsein liegt. In der Art und Weise, wie wir uns- als Individuen, Gesellschaft, Unternehmen, Zivilisation – selbst konstruieren. Aus dieser seltsamen Schleife entsteht Wandel im Sinne von Selbst-Veränderung, die auch zur Welt-Veränderung führt.“
Reaktionen auf „Zukunft nach Corona“
Der Umgang mit tiefgreifenden Krisen-, Transformations- und Veränderungsprozessen spielt auch in unserem Blog von Dr. Blaschka und Netzwerk eine zentrale Rolle. Von daher fügt sich das Buch von Zukunftsforscher Horx sehr gut ein. Er hat inzwischen auf einer eigenen Homepage eine Plattform zum regen Erfahrungsaustausch mit anderen über „Die Zukunft nach Corona“ gegründet.
In seiner „Future-Mind-Kolumne“ Nr. 59 „Die Herrschaft der Angst bestreiten“ bezieht Horx ausführlich zu möglichen Fehldiagnosen, aber auch zu dem einsetzenden Mentalitätswandel Stellung. Er verweist auf Wandlungsprozesse in punkto Fleischproduktion, Luftfahrt und Kreuzschifffahrt, Automobilbranche oder Fußball und populistische Weltsicht.
In einem Interview mit dem NDR vom Juni bemerkt er, dass es ihm in dem Buch vor allem um die Frage gegangen ist, wie wir als Gesellschaft mit der Veränderungsprozessen und der Gestaltung unserer Zukunft umgehen. Den Gesichtspunkt der Ökologie als „Schlüsselfrage des Jahrhunderts“, die Neuausrichtung wirtschaftlicher Prozesse und der Konsumkultur sowie die globalen politischen Veränderungsprozesse nimmt Horx in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom August ins Fadenkreuz.
Lehren aus der Veränderung
In der Fülle der Bücher, die inzwischen zur Corona-Pandemie und den Folgewirkungen erschienen sind, bildet „Die Zukunft nach Corona“ aus meiner Sicht einen der wenigen konstruktiven Ansätze zum Umgang mit der Krise. Das Buch zeigt auf, welche Lehren man selbst aus dieser extrem veränderlichen Zeit ziehen kann. Und wie man auch den Diskussionsprozess darüber konstruktiv gestalten kann.
Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona: Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert, 144 Seiten, Econ Verlag Berlin, ISBN: 978-3430210423
Über den Autor:
Matthias Horx, 65, avancierte nach einer Laufbahn als studierter Soziologe, Journalist und Publizist zu einem der einflussreichsten Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum. Er hat 20 Bücher veröffentlicht, von denen einige zu Bestsellern wurden. Mit dem Zukunftsinstitut (Wien / Frankfurt a. M.) gründete einen der wichtigsten Think-Tanks, die sich mit Zukunftsfragen befassen. Als leidenschaftlicher Europäer pendelt er zwischen London, Frankfurt und Wien, wo er seit 2010 mit seiner Familie das „Future Evolutio0n House“ bewohnt.