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Biografisches Coaching: Identität im Mittelpunkt

Das Feld des Biografischen Coachings hat es mir richtig angetan, weil es so vielschichtig ist und mir als Coach Kompetenzen an die Hand gibt, die mir und meinen Kunden auch in ganz anderen Coaching-Kontexten weiterhelfen. Im Biografischen Coaching geht es im Großen und Ganzen um die wichtigste Frage in unserem Leben: Wer bin ich? Lesen Sie in diesem Blogbeitrag, wie ein Fahrzeugingenieur im Coaching seine wahre Identität und seine innere Gefühlswelt bejahen lernte und dadurch sein berufliches Standing stärken konnte.

Hartmut S. arbeitet im Bereich Virtual Engineering bei einem großen Automobilzulieferer. Er hat beruflich viel erreicht; nun wurde an ihn herangetragen, dass er als neuer Abteilungsleiter in Frage komme. Sein Vorgänger wird in einem Vierteljahr in Rente gehen. Hartmut hat mit so einem Angebot nicht gerechnet – es geht ihm gut in seiner Position. Er bezieht ein gutes Gehalt, leistet sich eine Altbauwohnung in der Münchener Innenstadt und schöne Urlaube mit seinem Partner, mit dem er seit acht Jahren zusammen ist. Damit sind wir schon mitten im Thema.

Hartmut S. ist schwul, was gesellschaftlich kein besonderes Tabu-Thema mehr ist. Seine berufliche Umgebung – eine ziemliche Männerdomäne mit einer komplett männlichen Führungsriege – ist dafür allerdings ein schwieriges Pflaster. In seinem Job hat es sich Hartmut bequem eingerichtet, er muss nicht viel von seinem Privatleben preis geben und wird dazu auch nicht groß gefragt. Er muss bis jetzt nicht repräsentieren und es gibt keine Anlässe, bei denen er sich hätte outen müssen. Mit der Beförderung zum Abteilungsleiter würde sich das ändern: Als solcher wäre er direkt dem oberen Management unterstellt, würde ein Team von 25 Leuten führen. Auf einmal interessierte sich die Unternehmensführung für ihn und es würde in Zukunft offizielle Firmenanlässe geben, bei denen man zu zweit erscheint. Hartmut S. war sich zu Beginn des Coachings „zu 80 Prozent sicher, die neue Stelle nicht zu wollen“. Dabei hatte man ihm das Business Coaching von der Firma aus organisiert, damit er sich mit einer Rolle als Führungskraft auseinander setzen konnte.

Unterdrückte Identität und Schuldgefühle

Nun ging es vor allem um seine inneren Zweifel, als schwuler Vorgesetzter nicht angenommen zu werden, oder, noch schlimmer, wieder „abgesägt“ zu werden – wie er sich ausdrückte – sollten seine Chefs hinter seine Homosexualität kommen. Den 46-Jährigen plagten Schuldgefühle, wie er sie in den letzten 25 Jahren nicht mehr erlebt hatte: Wie hatte er seinen Partner nur so lange verschweigen können? Gar sich selbst verleugnen? War er es seinen Chefs überhaupt schuldig, sich zu outen? Er fühlte sich so schuldig wie damals, als er seinem Vater erst mit Anfang 30 die Liebe zu einem anderen Mann gestand. „Ich habe fast zwanzig Jahre meines Lebens damit vergeudet, meiner Familie etwas vorzuspielen“, beklagt Hartmut sein Schicksal – und vergleicht damit seine Situation mit Job, wo er das Gefühl hat, zu schauspielern, um dazu zu gehören. Soll er nun als Abteilungsleiter weitere 20 Jahre schauspielern? Die Sitzungen waren emotional sehr geladen, obwohl Hartmut sich angewöhnt hatte, wie er sagte, „im Job möglichst wenig von sich rauszulassen.“ Gefühle waren nichts, was man(n) – besonders er selbst – am Arbeitsplatz zeigte. Spätestens als Jugendlicher war Hartmut Profi darin, keine allzu persönlichen Gefühle zu zeigen, aus Angst vor sozialen Sanktionen.

Welche Spuren hinterlasse ich in der Welt?

Besonders rührte mich Hartmuts Erzählung von einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen es in seiner Abteilung einmal so richtig fröhlich zuging: Ein Kollege war Vater geworden und hatte ausnahmsweise Bier mitgebracht. Für kurze Zeit schwärmte ein Großteil der Kollegen von den eigenen Kindern. Ein etwas beschwipster Kollege klopfte Hartmut unsanft auf die Schulter und rief laut: „Wetten, unser Kauz hier pflanzt auch bald ´nen Baum?“ Dass man ihn heimlich als „Kauz“ betrachtete, war Hartmut in diesem Moment egal, aber ihm wurde klar, dass er nie Vater werden würde, „keine Spuren hinterlassen würde“. Es machte ihn traurig, ohne dass er diese Trauer irgendwie zeigen oder besprechen konnte. Sprach dieser Punkt aber nicht für die Beförderung? Als Führungskraft könnte er wenigstens mehr gestalten, in Personalfragen mitentscheiden und neue Führungsideen durchsetzen. Auch eine Art, „Spuren“ zu hinterlassen.

Identität als Summe aller Persönlichkeits-Teile

Hartmut ist mit seinem Dilemma nicht allein. Homosexualität ist für Männer wie Frauen in der Arbeitswelt immer noch ein schwieriges Thema, ganz besonders, je höher man auf der Karriereleiter gekommen ist. Im Management ist die Luft dünn, und dort ist auch selten Platz für jemanden, der von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Wir sprachen also über diese zwiespältigen Gefühle, die Hartmut in Bezug auf seine mögliche Führungsrolle hatte. Was zunächst nicht ganz einfach war, denn er hatte über lange Jahre seine Emotionen unter Verschluss gehalten.

Hartmut erkannte im Verlauf unserer Sitzungen, dass er als Führungskraft nur akzeptiert werden würde, wenn er authentisch war und mit sich im Reinen. Zwar lebte er glücklich in einer Partnerschaft, lebte dieses Gefühl aber nicht nach außen aus, sondern zog sich damit ins Private zurück. Er würde im Job aber mit offenen Karten spielen müssen, um nicht irgendwann zusammen zu brechen oder depressiv zu werden. Dass dies passieren könnte, habe ich ihm in Aussicht gestellt. Niemand kann über Jahrzehnte verschweigen, was in seinem Leben eine zentrale Rolle spielt. Schwul zu sein, war zwar nur eine Eigenschaft von Hartmut, aber ein Teil seiner Identität, die er nicht länger leugnen durfte.

Identitätsstiftende Entscheidung

Wie ging das Coaching weiter? Wir spielten verschiedene Szenarien durch – wie wäre es, wenn er sich vor seinem direkten Vorgesetzten outete? Hartmut tat sich sehr schwer damit. Er musste erst einmal durch ein tiefes Tal an Gefühlen wie Trauer, Verzweiflung und auch jede Menge Wut marschieren, um bei sich selbst anzukommen. Hier stoße ich mit Biografischem Coaching schließlich an meine Grenzen, vor allem, wenn unbewältigte Kindheitstraumen aufgearbeitet werden müssen – in Hartmuts Fall etwa die Tatsache, dass er in den Augen seiner Eltern nur liebenswert war, wenn er sich verhielt wie alle anderen Jungen in seinem Alter. Nun waren seine Eltern 80 Jahre und es hatte sich nichts an ihrer Haltung geändert. Alles in Allem konnte das Coaching Hartmut helfen, mehr zu sich zu stehen. Doch innerhalb eines Vierteljahres konnte es ihm gar nicht gelingen, sich zu der Führungskraft zu entwickeln, die sich das Unternehmen offenbar erwartete. Er musste sich eingestehen, dass er viel Zeit zur eigenen Identitätsfindung brauchte und dass es dafür keine Deadline gab. Er wollte auf gar keinen Fall (wieder) in eine Rolle schlüpfen, die eine Konformität von ihm verlangte, die er nicht erfüllen konnte. Abteilungsleiter wurde schließlich jemand anderes – aber Hartmut konnte sich nach einigen Monaten überwinden, sich erst unter langjährigen Kollegen zu outen und schließlich in seiner Abteilung. Dann brachte er sogar seinen Partner mit zur Weihnachtsfeier. Für ihn ein großer Schritt. Und für mich als Business Coach ein bisschen wie ein „Happy End“, das ohne Kenntnisse der biografischen Arbeit so vielleicht nicht zustande gekommen wäre.

Foto: Clipdealer