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Wege aus der Angst

Gerald Hüther gehört zu den renommiertesten Hirnforschern in Deutschland. Der Neurobiologe, der lange Jahre in der Präventionsforschung gearbeitet hat, versteht sich vor allem als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis. Er ist nicht zuletzt gefragt als Gutachter in Kommissionen, Referent und Buchautor, der sich mit Erziehungsthemen und Lerntheorien, der Würde, der Macht innerer Bilder, Demenz oder Gefühlsstress befasst hat. Ziel seiner Aktivitäten ist es, bessere Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potentiale zu schaffen und so die Selbstwirksamkeit des Menschen zu erhöhen.

Ganz auf dieser Linie liegt auch Hüthers Bestseller „Wege aus der Angst“ aus dem letzten Jahr. Die Veröffentlichung fällt nicht umsonst mit dem Ausbruch der weltweiten Corona-Pandemie zusammen. Die Zielrichtung gibt der 70-Jährige im Untertitel vor: „Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen“.

Sein bisher brisantestes Buch

Hüther selbst sieht in der Veröffentlichung das „gesellschaftspolitisch brisanteste Buch“, das er bisher veröffentlicht hat. Denn Angst warnt den Menschen als natürlicher Begleiter nicht nur vor Gefahren und lässt ihn aus Fehlern lernen. Sie lässt sich auch instrumentalisieren und manipulieren und damit politisch missbrauchen. Deshalb will er mit seinem Buch eine Debatte anstoßen über unseren Umgang mit Ängsten und wie wir uns aus deren Würgegriff befreien.

Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die Bedrohung wirtschaftlicher Existenzen, gigantische Schuldenberge und die Perspektive, dass dies noch lange so weitergeht, macht Menschen verständlicherweise Angst. Viele spüren, dass ihr Leben gerade auf bedrohliche Weise ins Wanken gerät.

Ängste entstehen aus Vorstellungen

Gerald Hüther konstatiert dazu: „Unsere Ängste kommen meistens nicht dadurch zustande, dass wir etwas ganz Furchtbares erleben, sondern dass wir uns etwas ganz Furchtbares vorstellen, was eventuell eintreten könnte.“ Wichtig ist für ihn deshalb nicht, die eigenen Ängste zu unterdrücken, sondern zu lernen „die Vorstellungen zu hinterfragen, mit denen wir unterwegs sind“. Ein natürliches Mittel gegen die Angst ist seines Erachtens nach deshalb das „Nachdenken darüber, was in uns Angst auslöst“.

Die Angst an sich ist für den Hirnforscher ein archaisches, unangenehmes, zuweilen auch bedrohliches oder lähmendes Gefühl, das unseren Körper mitunter verrückt spielen lässt. Schlimmstenfalls führt es dazu, Gewalt gegenüber anderen auszulösen. Zugleich ist die Angst für unser „formbares und zeitlebens lernfähiges Gehirn“ ein unverzichtbares Stimulanz zu Höchstleistungen und der Suche nach neuen Erkenntnissen und Möglichkeiten und zur Kurskorrektur geworden. Sie warnt uns, wenn wir uns verrannt haben oder wenn sich Abgründe und Irrtümer auftun.

Lernen aus Erfolgserlebnissen

Die hirnphysiologischen Grundlagen dazu arbeitet Hüther ebenfalls heraus. Das Lernen durch Erfolgserlebnisse führt durch die verstärkte Ausschüttung von Dopamin gleichzeitig zur Bahnung und Verstärkung der zur Lösung eines Problems aktivierten neuronalen Verschaltungen im Gehirn. So wird man bei der Bearbeitung solcher und ähnlicher Herausforderungen im Laufe der Zeit immer besser.

Aus den anfänglich noch sehr schwachen Verknüpfungen werden, je häufiger ein Problem auf die gleiche Weise gelöst wird, allmählich immer besser nutzbare Nervenwege, dann Straßen und am Ende Nerven-„Autobahnen“. Von diesen kommt man allerdings später nur schwer wieder herunter. Wer also Probleme immer wieder auf die gleiche, eingefahrene Weise zu lösen versucht, sitzt allzu leicht fest. Er gerät in Angst und Panik, wenn eine Situation entsteht, für die innovative Lösungsstrategien gefunden werden müssten.

Die Angst vor Kontrollverlust

Die Folge: Vor allem solche Personen, die bisher extrem erfolgreich bestimmte Strategien eingesetzt haben, um alles, was ihnen Angst macht, unter Kontrolle zu halten und zu beherrschen (auch sich selbst), verlieren auf diese Weise allzu leicht den Kontakt zu ihrem Körper. Oft betrachten sie diesen sogar als ein Instrument, das es zu kontrollieren gilt und das optimiert werden muss, um die von ihnen angestrebten Ziele zu erreichen.

Je länger und je erfolgreicher solche Menschen auf diese Weise unterwegs sind, desto stärker verlieren sie das Gefühl für ihren eigenen Körper. Sie werden gewissermaßen taub für die dort generierten Warnsignale. Strategien wie Ablenkung, Verdrängung, Aufregung, mehr Arbeit oder Urlaub funktionieren auf Dauer nicht mehr. Das Prinzip ständiger Kontrolle läuft ins Leere.

Die Botschaft hinter der Angst

Hilfreich kann es hier sein, die Botschaft hinter der Angst zu verstehen. Hüther zufolge ist der von ständigen Veränderungen bewirkte Wandel, der Angst auslösen kann, sich aber nicht in ein Korsett der Kontrolle zwängen lässt, Ausdruck des ursprünglichen Lebensprinzips. Als sich selbst organisierender Prozess ist dieses auch Treiber tiefgreifender persönlicher oder gesellschaftlicher Transformationsprozesse.

Der Experte schildert sein Erstaunen darüber, als er sich in seinen Anfängen als Hirnforscher erstmals selbst mit dem Thema Angst auseinandergesetzt hat: „Mindestens 99 Prozent der Ängste, mit denen wir herumlaufen, sind Ängste, die durch unsere Vorstellungen entstehen. Und nicht durch Realitäten, die dann tatsächlich eintreten.“ Hier liegt auch das Einfallstor für politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Manipulatoren. Sie verstehen es geschickt, Angstmuster zu erzeugen, um die Menge zu lenken und eigene Ziele durchzusetzen.

Gefangenen in eigenen Vorstellungen

Als „Gefangene unserer eigenen Vorstellungen“, die das gesamte Denken, Fühlen und Handeln von Menschen bestimmen können, müssen wir deshalb passende Wege und Strategien entwickeln, gemeinsam diese Vorstellungen zu hinterfragen. „Es geht mir darum, dass ich nicht möchte, dass Menschen mit Angst machenden Vorstellungen herumrennen und dann das verlieren, was unser höchstes Gut in dieser Gesellschaft ist, nämlich die freie Entscheidungsfähigkeit.“

Worum es Hüther geht, ist, den eigenen Blick auf die Welt zu hinterfragen und überkommene Bewertungsmaßstäbe gegebenenfalls zu korrigieren. Die Vorstellungen sind es primär auch, die die Lebensbedingungen und -wirklichkeit jedes Einzelnen, von Familien, Dörfern, Städten, ja ganzen Kulturkreisen prägen. Je mehr sich solche Vorstellungen verfestigen und an Komplexität gewinnen, desto stabiler erscheint eine Gesellschaft. Zugleich wird sie in dieser Erstarrung unflexibler, auf neue Herausforderungen zu reagieren.

Beispiele dafür gibt es genug: Weder Treibhausgase, die Abholzung der Regenwälder und Zerstörung von Ökosystemen, noch die Ressourcenverknappung, das Artensterben und die sich immer mehr abzeichnenden Vorboten einer kommenden Klimaveränderung haben bisher zu einem nachhaltigen Wandel der Lebens- und Wirtschaftsweise geführt.

Warum Corona weltweit Angst auslöst

Keine dieser Bedrohungen für das Überleben der Menschheit war bis jetzt in der Lage, eine sich derart global ausbreitende Angst wie Corona auszulösen. Die Viruskrankheit, die erstmals jeden zeitnah, hautnah und ganz persönlich betrifft, ist für Hüther wie ein „Ersatzschlachtfeld, das wir jetzt tapfer bekämpfen, weil es kaum auszuhalten ist, dass wir auf allen anderen Problemfeldern einfach überhaupt nicht mehr weiterkommen“.

Nach Überzeugung des Hirnforschers bringt Corona „alte, festgefügte Muster durcheinander“. „Im Hirn sind das Verschaltungsmuster und auf gesellschaftlicher Ebene bestehende Strukturen, Verhältnisse und Gegebenheiten, die über Jahre hinweg entstanden sind.“ In der Destabilisierung alter Muster sieht Hüther die Chance und Voraussetzung, Neues zu denken und neue Lösungswege zu finden. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung, so seine Annahme, wird nach Corona etwas ändern wollen. Und sich mit diesem Anliegen deutlich bemerkbar machen.

Was gegen die Angst hilft

Welche Mittel gibt es zur Eindämmung der Angst? Hüther nennt als Grundkompetenz die Fähigkeit zum Vertrauen. In die eigenen Kompetenzen, ein hilfreiches persönliches Umfeld oder – als stärkste Kraft – das hoffnungsfrohe Vertrauen auf eine übergeordnete Instanz. Nicht weniger essentiell ist aus seiner Sicht, im eigenen Leben die beiden Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Geborgenheit sowie nach Autonomie und Freiheit wiederzuentdecken und leben zu können.

Schlussendlich plädiert der gefragte Buchautor in seinem Buch, „Wege aus der Angst“ dafür, dass jeder seine eigenen Potientiale und individuellen Fähigkeiten wiederentdeckt, die ihn auf dieser Welt einzigartig machen. Die ihn zu etwas Besonderem befähigen. Und die ihm vielleicht auch den Weg ebnen zu einem liebevollerem, wertschätzenden Umgang mit sich selbst. Dies verändert auch die persönliche Sicht auf die Welt um uns und unsere Verantwortung dafür. Hüther: „Für Angst machende Vorstellungen ist dann einfach kein Platz mehr in Ihrem Gehirn.“

Gerald Hüther: Wege aus der Angst: Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen. Göttingen 2020, 128 Seiten, ISBN: 978-3525453872.

Foto: www.gerald-huether.de / Michael Liebert