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Wikimedia commons_Gabriel Wolkenfeld

Begegnung mit schillernden Charakteren

Fachbücher zu den interessantesten Themen haben wir an dieser Stelle schon viele beschrieben. Heute habe ich mir mal einen Roman als Empfehlung herausgepickt, der mit seiner turbulenten Familiengeschichte über mehrere Generationen und Länder hinweg belebend wie ein gutes Glas Wein am Abend wirkt. Nicht zuletzt sind es auch ein paar ganz persönliche Erinnerungen und Bezüge, die die Buchlektüre zu einem echten Lesevergnügen für mich machen. Ich könnte mir vorstellen, dass auch bei Ihnen das Verfolgen der Geschichten im Buch „Babylonisches Repertoire*“ von Gabriel Wolkenfeld zu einer wohltuenden Gedanken-Auszeit um den Jahreswechsel werden könnte.

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Ein wenig Muße muß man mitbringen für diesen 500-Seiten-Roman, in dem Wolkenfeld gleich zu Beginn ein 27 Namen umfassendes Personenregister vorstellt, damit keiner den Überblick verliert. Wer sich dieser Herausforderung stellt, den belohnt der Autor mit exotisch anmutenden Schauplätzen und herrlich skurrilen Figuren in seiner „ganz normalen“ jüdischen Familiensaga.

Endlich mal den Turbo anwerfen

Mit der Hauptperson, dem Israeli Yair, begegnen wir einem Müßiggänger als  Großstadtpflanze, die im Tel Aviv der Gegenwart im Limbo zwischen Wollen und Tun festhängt. Gebildet, schwul, sympathisch und hübsch obendrein. Als DJ möchte er erfolgreich sein, endlich den Turbo anwerfen und seinen Traum von der eigenen Platte verwirklichen, „den Rausch vertonen“. Immer auf der Spur von Max Richter, Philipp Glass und Yann Tiersen, die seine Hausheiligen sind. Klappt aber irgendwie immer nicht so ganz in seinem chaotischen Alltag.

Drive bekommt die Geschichte im „Babylonischen Repertoire“ nicht zuletzt durch die hochinteressante Familie von Yair. Da ist die lebensverschlingende Schwester Avital, die weder Sex noch Drogen widerstehen kann und auch noch am Abgrund für ein kleines Tänzchen zu haben ist. Dann darf natürlich die wortgewaltige jüdische Mamme nicht fehlen. So richtig am Herzen liegt Yair allerdings sein Großvater Avigdor Seliger, den er regelmäßig besucht. Ein eigensinniger Charakterkopf ist der, freiheitsliebend, unkonventionell und belesen. Ein Mann mit kosmopolitisch-schillernder Vergangenheit.

Weil der alte Herr allerdings immer sonderlicher wird und mehr und mehr verstummt, steckt Tochter Hannah ihn ins Altenheim. Die Ärzte vermuten eine beginnende Demenz, Yair dagegen glaubt, dass sich Avigdor auf Dauer im Schweigen einrichten will.  Aus Angst, Avigdor könnte den Bezug zur Realität verlieren, erzählt Yair ihm jene Geschichten, die der Großvater ihm einst während der Schulferien am See Genezareth erzählt hat.

Geschichten wie aus „1001 Nacht“

In geschickter Umkehrung der 1001-Nacht-Erzählungen der hübschen Scheherazade erfindet der Enkel aufgrund unscharfer Erinnerungen immer wieder etwas hinzu, wandelt ab oder übertreibt in der Hoffnung, Avigdor Seliger damit doch noch aus der Reserve zu locken. Und sich damit auch selbst ein stückweit vom eigenen chaotischen Leben im Tel Aviv von heute abzulenken. Samt seiner schwulen Liebesabenteuer mit dem Deutschen Wolfgang, dessen Familiengeschichte wie ein zweiter Erzählstrang bruchstückhaft skizziert wird.

Die Familiengeschichte beginnt mit dem attraktiven Urgroßvater Isidor, dem größten Herzensdieb und Hallodri im jüdischen Schtetl der litauischen Stadt Kaunas. Wir werden Zeuge der Verwerfungen im frühen 20. Jahrhundert, von der Flucht vor den Deutschen aus den baltischen Sowjetrepubliken in die Sowjetunion Stalins, dem Leben in der usbekischen Hauptstadt Taschkent oder dem in Gorki miterlebten Zerfall der Heimat bis hin zu Repressionen und der  Auswanderung nach Israel in den 80er Jahren. Fast ein ganzes Jahrhundert bildet die Folie für die wild-turbulente Familiensaga mit ihren wunderlich-charmanten und originellen Figuren-Panoptikum.

Geburt eines besonderen Wesens

Wir begegnen im „Babylonischen Repertoire“ der schönen Bella Rubinsteyn. Sie ernährt sich während der Schwangerschaft nur von exotischen Obst, weil sie ein besonderes Wesen gebären will. Oder der außergewö Olympiada, die selbst nach der Scheidung von Avigdor und dessen Wiederverheiratung stur an seiner Seite bleibt, indem sie sich einfach zur „Muse“ erklärt. Sie ist in jeder Hinsicht eine pralle Figur, die es mit sinnenfroher Körperlichkeit schafft, nicht nur KGB-Männer zu domestizieren, sondern auch Avigdor seiner wahren Lust zuzuführen: seiner Leidenschaft für die Literatur. Und dann ist da noch die dünne, ewig hungrige Danuta, die vom schlauen Waisenkind schlicht aus unstillbarem Appetit zur Meisterdiebin wird.

„Babylonisches Repertoire“ ist allerdings keine Leidens- und Verfolgungsgeschichte einer ostjüdischen Familie. Der Roman besticht vielmehr durch den Ideenreichtum sowie die Erzähl- und Fabulierkunst Wolkenfelds samt seinem schillernden Personentableau und dem Parforceritt durch unterschiedliche Schauplätze und Zeitebenen. Was mich  besonders angesprochen hat, waren mehrere Aspekte, die auch so schön miteinander verwoben waren.

Schwules Leben in Tel Aviv

Natürlich haben wir mit Yair einen schwulen Protagonisten, von denen ich mir immer noch mehr in der Literatur wünsche. Diese ganze Familiengeschichte wird mit einem herrlich-humorvollen Unterton erzählt, bei dem alle mit ihren Eigenheiten irgendwie sein dürfen und jede für sich genommen auch normal war. Und es ist auch der ewige Kreislauf des Lebens, der hier so wundervoll beschrieben wird. Das Generationenthema.

Aber auch Yair mit seinem irgendwie auch typisch schwulen und teilweise chaotischen Leben, in einer Stadt, die ich in bester Erinnerung habe, auch ganz besonders, was das gay life angeht. Ich war im Mai 2019 in Tel Aviv und möchte da unbedingt nochmal hin. Die Menschen dort empfand ich als unglaublich (gast)freundlich. Ich hatte als Deutscher in Israel da schon etwas Bammel, der  aber total unbegründet war. Beim Lesen musste ich mich daran erinnern, mehr als einen Yair kennengelernt zu haben, der mich durch das wunderbare Leben in Tel Aviv geführt und begleitet hat. Vielleicht gibt das einen Ausblick auf den nächsten Sommer, wieder in Tel Aviv?

Debütroman „Wir Propagandisten“

Vielleicht noch ein paar kurze ergänzende Worte zu diesem faszinierenden Autor aus Berlin. Gabriel Wolkenfeld (37) hat Germanistik, russische Philologie sowie allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft in Potsdam und Tallinn studiert. Er war zu Arbeitsaufenthalten in Estland, Russland und eer Ukraine. Seit 2013 veröffentlicht er Lyrik und Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften. Seit 2012 arbeitet er zudem als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache und organisiert seit 2015 als Projektmanager internationale Jugendbegegnungen.

2015 erschien sein Debütroman „Wir Propagandisten“ über einen jungen Slawisten, der, selbst schwul, zu jener Zeit für ein Jahr als Sprachlehrer nach Russland reist, als die Duma „homosexuelle Propaganda“ gesetzlich verbieten will. 2021 erschien sein Gedichtband „Sandoasen (Israelisches Album)“, Teil eines auf fünf Bänden angelegten Projekts, bei dem jeder Band einem anderen Land gewidmet ist. Sein zweiter Roman „Babylonisches Repertoire“ erschien im Herbst 2021.

Gabriel Wolkenfeld: Babylonisches Repertoire*, Verlag Muery Salzmann, Salzburg, 500 Seiten, ISBN:  978-3990142196

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Foto: Wikimedia Commons / Gabriel Wolkenfeld